"Wir wollten den Knechtsgeist austreiben"

■ Zwischen Markt und Müller-Erbe: Der zurückgetretene Chefdramaturg Carl Hegemann über das Berliner Ensemble

Ein akuter und rätselhafter Kräfteverschleiß zehrt am Berliner Ensemble. Nach jahre- und jahrzehntelanger Kontinuität wechselte die Leitung in den letzten fünf Jahren so häufig wie nirgendwo sonst. Für Unruhe sorgte natürlich Rolf Hochhuth, der hoffte, über die Immobilie Einfluß auf das Theater zu bekommen. Für Unruhe sorgten auch die heiklen Brecht-Erben, die mit Aufführungsgenehmigungen geizen. Aber auch die innere Struktur war nie stabil. Schon Heiner Müller war der letzte eines Ost- West-Fünfergremiums, und als er Ende 1995 starb, machte sich ein neues Team kaum glückvoller an die Arbeit.

Der neue Intendant Martin Wuttke holte Carl Hegemann als Chefdramaturgen in die Leitung und band auch den Regisseur Einar Schleef ans Haus. Stephan Suschke, zuvor künstlerischer Koordinator, wurde stellvertretender Intendant, und Peter Sauerbaum, der Geschäftsführer der Berliner Ensemble GmbH seit 1992, war auch noch da.

Einige Monate herrschte Ruhe. Dann wurde Einar Schleef im Dezember 1996 fristlos entlassen. Der Grund: Arbeitsverweigerung. Der Hintergrund: Vertragsquerelen. Einen Tag später trat Martin Wuttke zurück, weil der Kultursenator dem Berliner Ensemble, allen Ankündigungen zum Trotz, noch immer keine Subventionszusicherung gegeben hatte. Hegemann blieb vorerst und übernahm gemeinsam mit Suschke und Sauerbaum die Leitung. Ein halbes Jahr hielt er aus, letzte Woche trat auch er zurück.

taz: Zehn Minuten vor dem Brecht-Geburtstagsjahr 1998 werfen Sie als Chefdramaturg des Berliner Ensembles das Handtuch. Was ist passiert?

Carl Hegemann: Schon mit Martin Wuttkes Rücktritt, der noch immer nicht ganz geklärt ist, habe ich gewußt, daß das, was wir in diesem Theater wollten, dort nicht zu machen sein wird.

Was ist an Wuttkes Rücktritt nicht geklärt?

Ich wundere mich immer noch, daß seine Forderung an den Kultursenat am Tag nach seinem Rücktritt erfüllt worden ist. Da waren die Arbeitsgrundlagen plötzlich da. Aber Wuttke war nicht mehr da, Schleef war nicht mehr da. Von dem engeren Kreis, wegen dem ich vom Bochumer Schauspielhaus ans Berliner Ensemble gekommen bin, war ich nur noch alleine da. Und geradezu automatisch begann das Theater sich danach zu richten, daß man auf mittlerem Niveau möglicherweise billiger produzieren kann und mehr Erfolge hat als mit mehr Anspruch.

Das hört sich an wie eine Verschwörungstheorie: Die Künstler werden hinauskomplimentiert, damit besser gewirtschaftet werden kann. Ist der Geschäftsführer Peter Sauerbaum der Drahtzieher?

Ich will ihm keineswegs etwas Böses unterstellen. Aber ein beurlaubter Senatsrat, der beste Kontakte zur Kulturverwaltung hat und gleichzeitig einziger aktiver Gesellschafter und Geschäftsführer des Berliner Ensembles ist, hat eine Machtfülle, die den künstlerischen Bereich zwangsläufig tangieren muß.

Was heißt das?

Er leitet aus seiner Verantwortung für die Finanzen auch eine Verantwortung für die künstlerischen Entscheidungen ab. Wenn ich zum Beispiel anderer Meinung war als er, versuchte er zunächst, mir die Sache mit künstlerischen Argumenten auszureden. Und wenn ich das nicht akzeptieren wollte, sagte er: Dann sage ich eben, ich habe kein Geld dafür. Und das schaffte, bei allem Verständnis, für mich eine Arbeitsatmosphäre, in der Kunst funktionalisiert wird und es permanent Konflikte gibt, die ich unproduktiv und blockierend finde.

Wieso sind Sie nicht schon im Dezember zurückgetreten?

Weil die Gesellschafter Peter Palitzsch und Fritz Marquardt mich dringend gebeten hatten, bis zur Findung einer neuen Lösung weiterzumachen, und ich das eingesehen habe.

Claus Peymann soll 1999 die Intendanz übernehmen. Ist die Lösung damit gefunden?

Ob Peymann wirklich kommt, weiß kein Mensch. Aber eine Lösung ist insofern gefunden, als Suschke und Sauerbaum dazu bereit sind und es auch für möglich halten, das Theater gemeinsam so lange künstlerisch zu leiten, bis Peymann eventuell kommt. Und ich habe mich für diesen langen Zeitraum und ein solches Verständnis von Interimistik nicht entscheiden können.

Sie aus dem Westen als Rest der Wuttke-Gruppe auf der einen Seite, Suschke aus dem Osten und Sauerbaum aus dem Westen auf der anderen – ist das jetzt ein Ost- West-Konflikt oder nicht?

Ja und nein. Die Geschichte ist die, daß man nach der Wende gerade im Osten den Markt viel stärker im Kopf hat. Es geht immer darum, was man auf den Markt schmeißen kann, obwohl der Markt das gar nicht mehr honoriert, sondern sich vielmehr das unter den Nagel reißt, was gar nicht für ihn gedacht war. Das ist ein Problem, das am Berliner Ensemble schwer diskutierbar ist. Früher galt die Disziplin einer politischen Idee, heute gilt die Disziplin dem Verkaufen. Ich finde das anachronistisch, aber ein West-Verwaltungsmensch wie Sauerbaum trifft sich da mit östlichen Theatermachern.

Was heißt das genau: für den Markt produzieren. Setzt man sich hin, erstellt Bedürfnisprofile und gibt dann ein Stück über Eva Braun in Auftrag?

Ungefähr. Oder man sagt: Wir sind das Berliner Ensemble. Und mit Ensemble ist leider nicht soviel, das ist nicht so populär, also machen wir ein Berlin-Projekt. Mit Stoffen aus Berlin. Damit kriegt man die Leute ins Theater. Ich dagegen denke wie Martin Wuttke und Einar Schleef, daß man statt dessen von den Leuten ausgehen muß, die am Berliner Ensemble arbeiten. Von deren Geschichte und Erfahrung der letzten Jahre und Jahrzehnte. Postheroisches Management ist das Stichwort, das Heiner Müller selbst noch geliefert hat. Wir wollten den Knechtsgeist austreiben und den Leuten die Möglichkeit geben zu machen, was ihnen wirklich wichtig ist und sie selbst verantworten können. Aber tatsächlich hat sich die Spannung, die an diesem Haus herrscht, nur ganz selten entladen, und meistens nicht auf der Bühne. Ansonsten gilt die Auffassung, daß die paar Sachen von Brecht, die man heutzutage noch machen kann, einfach so gemacht werden sollten, wie das Publikum sie erwartet: konservativ. Immerhin, mit der „Maßnahme“ ist jetzt so etwas wie eine Selbstthematisierung gelungen. Allerdings unter der unbefangenen und sensiblen Regie eines Westregisseurs, Klaus Emmerich.

Wuttke, Schleef und Sie sind also gleichermaßen am Geist des alten Berliner Ensembles wie an der Verwaltung des neuen Berliner Ensembles gescheitert?

Es kamen auch äußere Zwänge dazu. Ursprünglich hat uns der Kultursenator Peter Radunski versprochen, daß der Subventionsvertrag bis zum Jahr 2002 verlängert wird und wir sechs Jahre Zeit haben, ein neues Berliner Ensemble aufzubauen. Mit dem Aufbau konnten wir aber erst anfangen, wenn wir den Vertrag hatten, und davon war nach einem halben Jahr erst mal gar keine Rede mehr. Damals hat die Öffentlichkeit der künstlerischen Leitung des Theaters immer vorgeworfen, nichts zu produzieren. Nach Ansicht des Geschäftsführers war aber angesichts des vertraglichen Vakuums keine verbindliche Planung möglich. Es wurden dann zwei Millionen Mark eingespart, aber wir haben kaum produziert. Als das Geld gesichert war, war in kürzester Zeit ein ganzes Programm da.

Welche Chance geben Sie dem Berliner Ensemble für das Brecht- Jahr?

Ich empfinde es als Glücksfall, daß die Stücke aus den Jahren 1927 bis 1931 den Schwerpunkt bilden. Denn obwohl sich kaum jemand um sie kümmert, sind sie das Kernstück von Brechts Werk. Neben der „Maßnahme“ wird es den „Ozeanflug“ unter der Regie von Robert Wilson geben, und Frank- Patrick Steckel inszeniert das „Badener Lehrstück vom Einverständnis“.

Und was die Leitung betrifft?

Ich traue Stephan Suschke durchaus zu, das Theater „in den Griff“ zu bekommen, wie er gerne sagt. Aber vielleicht ist das anachronistisch. Niklas Luhmann sagt (Hegemann zieht das Programmheft der „Maßnahme“ aus der Tasche und liest vor): „Was in der Kunst sichtbar wird, ist nur die Unvermeidlichkeit von Ordnung schlechthin. Daß hierbei transhierarchische Strukturen, selbstreferentielle Zirkel, transklassische Logiken und alles in allem größere Freiheitsgrade in Anspruch genommen werden, entspricht den gesellschaftlichen Bedingungen der Moderne und zeigt an, daß eine in Funktionssysteme differenzierte Gesellschaft auf Autorität und auf Repräsentation verzichten muß. Die Kunst zeigt, daß dies nicht, wie Traditionalisten befürchten könnten, auf einen Ordnungsverzicht hinausläuft.“ (Hegemann klappt das Programmheft zu, lehnt sich zurück und schweigt.) Interview: Petra Kohse