Eigentlich hilft nur Beten

„Dieser Sport ist idiotisch“: Millionen von Inline-Skatern haben Probleme mit dem Bremsen und die Fußballer an der Spitze der Unfallstatistik abgelöst  ■ Von Thorsten Denkler

„O.k.“, dachte ich mir, „probierste's einfach mal aus.“ Also rein ins Fachgeschäft, die Inline-Skater fürs Wochenende ausgeliehen, inklusive Protektoren-Set und Helm, und ab in den sonntäglichen Park. Auf den Boden gesetzt, sorgfältig die Knie-, Ellenbogen- und Handgelenkschützer übergestreift, Helm über den Kopf und Hartschalen-Skates über die Füße gestülpt, festgeschnallt und fertig. Dann: aufstehen. Schon fast im Stand, verlor ich den Halt. Mein rechter Fuß knickte nach innen weg. Das einzige Gefühl: Schmerz.

Es ging alles sehr schnell: mit der Unfallambulanz ins Krankenhaus. Erste Einschätzung der diensthabenden Ärztin: „Tja, Ihr Knöchel ist gebrochen, Weber-C- Fraktur.“ Bis zur Operation am Mittwoch immer wieder der Gedanke: „Ich Depp, ich Depp, ich Depp!“ Aber: Mein Fall war kein Einzelfall. Ich war schon der dritte mit dem gleichen Bruch an diesem einen Nachmittag.

Beispiel Bonn: ein Paradies für Skater. Der Rheinauen-Park drängt sich förmlich auf, die ersten Versuche auf den Rollen zu machen. Die größte freistehende Half-Pipe Europas trägt ihr Übriges dazu bei, daß Skater sich vor Entzücken kringeln, wenn der Name unserer Ex-Hauptstadt fällt.

Ein Anruf bei der hiesigen Barmer Ersatzkasse macht dagegen den Ernst der Lage deutlich: Allein in deren Einzugsgebiet zählte die Kasse seit Jahresbeginn 83 schwere bis schwerste Unfälle auf Inlinern. „Damit haben die Skater erstmals die Fußballer vom Spitzenplatz in unserer Unfallstatistik verdrängt“, zeigt sich Pressesprecher Franz-Josef Toussaint besorgt.

Eine Studie der Hamburger Unikliniken bestätigt diesen Trend: Von allen Sportverletzten, die dort in den Monaten Juni und Juli eingeliefert worden sind, waren 20 Prozent Inline-Skater. Die Verletzungen sind oft erheblich: Wer sich mit Inline-Skatern hinlegt, hat noch Glück, wenn er nur mit schmerzhaften Schürfwunden davonkommt. Komplizierte Brüche aller Extremitäten sind an der Tagesordnung.

Dr. Henrich Simonis ist Ambulanzarzt der chirurgischen Abteilung des Bonner Johanniter-Krankenhauses. Aus den naheliegenden Rheinauen werden ihm regelmäßig neue Patienten angeliefert. Armbrüche sind da die eher harmlose Variante, mit der Simonis zu kämpfen hat. „Bis vor zwei Jahren habe ich in meiner gesamten Laufbahn als Chirurg nur eine einzige doppelseitige Kieferfraktur gesehen – seit es die Inliner gibt, waren es schon vier. Dieser Sport ist einfach idiotisch.“

Die Protektoren für Handgelenk, Knie, Ellenbogen und Kopf vermindern zwar das Verletzungsrisiko. Diesen Schutz nutzen nach einer Untersuchung des Münsteraner Professors Jörg Jerosch aber nur 19 Prozent aller Skater. Und wenn es drauf ankommt, hilft eh nur noch Beten. „Wer unglücklich auf seine Handgelenke fällt, kann damit rechnen, daß ihm der Aufprall förmlich das Ellenbogengelenk aus dem Arm heraussprengt – ob nun mit Protektoren oder nicht“, warnt Simonis.

Dr. Bettina Schaar, Sportwissenschaftlerin am Institut für Rehabilitation der Deutschen Sporthochschule Köln, sieht nur einen Weg, sich vor den schwersten Verletzungen zu schützen: Das Fahren auf Inline-Skatern muß gelernt werden. „Schnell fahren kann jeder. Schnell stoppen dagegen ist eine Kunst.“ Rund zwei Drittel aller Skater können nicht richtig bremsen, aber wer beim Stoppen das Gleichgewicht verliert, hat schon verloren.

Die Sporthochschule Köln hat Durchschnittsgeschwindigkeiten von 18 bis 25 Kilometer pro Stunde gemessen. Selbst Geübte brauchen da einen Bremsweg von bis zu 30 Meter. Schaar: „Kennen Sie die Dummy-Tests, wenn ein Fahrzeug mit 30 Stundenkilometern gegen eine Wand prallt? Dann wissen Sie ja, was Ihnen passieren kann.“ Und dem Skater fehlt die Knautschzone.

Die Haxen bricht man sich jedoch nicht nur bei rasender Fahrt. Von folgendschweren Spiralbrüchen weiß der Leiter des Notarztdienstes Bonn-Süd, Dr. Andreas Bartsch, zu berichten. „Dazu reicht es, bei ganz geringem Tempo ins Straucheln zu geraten.“ Wer dann versucht, mit einer Drehung wieder ins Lot zu kommen, muß damit fehlschlagen: „Die Rollen bleiben wie angedübelt auf der Stelle stehen. Dann kracht's halt ganz schnell mal.“ Ergebnis: Fraktur des Schienbeins. Das Wadenbein ist meist auch gleich mit durch.

Nicht nur mit ihren Knochen, sondern auch mit ihrem Leben spielen die sogenannten „aggressive skater“. Die stürzen sich kopfüber in die drei Meter hohe Half- Pipe. Hier sind sogar Genickbrüche möglich, sollte der Skater bei seinen oft mehrere Meter hohen Sprüngen statt mit den Rollen mit dem Kopf zuerst auf die harte Eisenkante knallen. Todesfälle dieser Art hat es auch schon in Deutschland gegeben. Trotzdem, nur 2,6 Prozent aller Skater ängstigen mögliche Schädelbrüche und Hirntraumata so, daß sie einen Helm aufsetzen würden.

„Die Skater-Dichte wird in den nächsten Jahre noch in die Höhe gehen“, befürchtet Professor Jerosch, „damit steigen auch die Unfallzahlen und die Kosten für die Gesellschaft.“ Über zwei Millionen Dollar sind 1995 in den USA für Behandlungen und Gerichtskosten von Opfern des Boom- Sports ausgegeben worden. Dabei ist die Situation im Mutterland erstaunlicherweise nicht einmal so dramatisch wie in der Bundesrepublik. Glaubt man den Statistiken, wagt sich in den USA nur jeder 13. auf die Plastikrollen. Hierzulande ist es jeder Achte.