piwik no script img

„Bitte, bitte, soviel Zeit muß sein“

Eine Warnung? Ein Versprechen? Andreas Kriegenburg inszeniert Ibsens „Volksfeind“ am Schauspiel Hannover als menschliche Tragödie ohne moralische Absolutheit: Die Gesellschaft hat unrecht, Stockmann aber auch  ■ Von Petra Kohse

Am Ende wirft sich Stockmann über seine tote Frau und heult. Heult in den eisblauen Bühnenhimmel hinauf, schluckt und schluchzt so haltlos, wie es sich im wirklichen Leben wohl keiner trauen würde. „Der stärkste Mann ist der, der ganz alleine ist“, ruft er noch, dann wird es Nacht. Eine menschliche Tragödie. Und ein theatralischer Triumph. Denn Stockmann trauert nicht um seine Frau – die hat er selbst ermordet –, er trauert um sich selbst. Und drei Herren vom Lokalblatt sitzen staunend dabei.

Im Schauspiel Hannover hatte am Samstag Ibsens „Volksfeind“ Premiere. Unter der Regie von Andreas Kriegenburg und in der Bearbeitung von Thomas Brasch. Ein Gesellschaftsstück von vor 115 Jahren, das eigentlich ganz anders endet: Dr. Stockmann ist gescheitert, verarmt und geächtet. Aber er gibt die Hoffnung nicht auf. Er schart seine Familie um sich, sagt ihr den Satz vom einsamen Helden zur Beruhigung vor und lügt sich Zeiten der Wahrheit herbei. Das geht heute natürlich nicht mehr. Nicht Familie, nicht Hoffnung, nicht Wahrheit. Nicht diese moralische Erschütterung, nicht diese Absolutheit, nichts davon. Die Sachlage allerdings ist so ähnlich noch denkbar.

Stockmann, der einst die kommerziell geniale Idee hatte, in seiner Heimatstadt einen Kur- und Badebetrieb aufzuziehen, hat jetzt herausgefunden, daß der Gerbereibetrieb seines Schwiegervaters das Wasser verseucht. Für ihn ist klar, daß man das Bad sofort schließen und eine Kläranlage bauen muß. Nicht so für die anderen. Der Ruf des Bades darf nicht verdorben, die Stadtkasse nicht belastet werden. Auch die fortschrittlichen Redakteure des Volksboten schwenken bald auf die Vertuschungslinie des Bürgermeisters um und erklären den sich immer weiter in seinen Aufklärungseifer steigernden Stockmann zum Volksfeind. Die „kompakte Majorität“, die Öffentlichkeit, in deren Namen er kämpfte, wirft dem Doktor die Fensterscheiben ein.

Die Gesellschaft hat unrecht. Stockmann aber auch. So puristisch darf einer heute nicht mehr sein, und im Spielzeitheft wird sofort auf Max Weber verwiesen und darauf, daß in der arbeitsteiligen Gesellschaft jeder Bereich seinen eigenen Rationalisierungskriterien folgt und folgen muß. In diesem Sinne hebt auch die Inszenierung an, mit einem gleich dreimal wiederholten Vorspiel: Zu sehnsuchtsvoller Akkordeonmusik zieht ein Reigen der grotesk und einsam Getriebenen vorbei. Frau Stockmann schafft geishaesk trippelnd und lächelnd Salat herbei, die Redakteure reißen ihn sich gegenseitig von den Tellern und stopfen ihn manisch in den Mund. Tochter Stockmann krümmt sich als graumausige Lehrerin über den Heften, und der Doktor mustert selbstverliebt das Publikum.

Solche Arrangements kann Kriegenburg. Mit Rhythmus (gerne Tango) und liebevoller Ironie wirft er sie detailreich auf die Bühne und greift dabei so schamlos nach dir im Publikum, daß du nur seufzend in den Sitz rutscht und denkst: „Es sei.“ Theater, das anhand eines Textes, einer assoziativen Logik folgend, jeweils auch die absurde und anrührende Geschichte der Sehnsucht erzählt – komödiantisch, spontan und emotional. Volkstheater, poetisches.

Später zeigt sich, was für ein Tyrann der Moralist Stockmann ist. Roland Koch, ein Virtuose der kalkulierten Rollenentgleisung, knechtet alle mit seinen Launen – als Stockmann die Figuren des Stücks, als Schauspieler seine Kollegen. Nur Doreen Nixdorf als Tochter Petra setzt der gewaltsamen Euphorie Spott und ihre innere Wüste entgegen. „Spiel was Trauriges“, treibt sie Laurent Simonetti an, der mit Akkordeon den Kapitän Horster gibt. „Trauriger, trauriger!“ brüllt sie, aber Horster kann nicht mehr, alle anderen flennen schon, aber Petra bleibt ungerührt. Auch am Ende, wenn alles verloren ist, entlockt die Musik ihr keine Träne. Da erschießt sie den Kapitän, hängt sich eine Blechtrommel um und geht.

Wo die Jugend so desillusioniert ist, so fern gleichermaßen von Idealismus und Realpolitik, bleibt für alles andere nur noch Zynismus. Den aber kennt Kriegenburg nicht, den will er nicht, da knickt er ein. Es folgt herrliches, aber etwas unscharfes, weil irgendwie doch idealistisches Theater. Was auch an Roland Koch liegen mag, der als scheiternder Stockmann nicht zum Geiferer, sondern zum Charismatiker wird. Er hat das Publikum fest im Griff, wenn sich nach der Pause die Volksversammlung im Foyer abspielt. Er singt, kokettiert und segelt so elegant durch die Zuschauermassen, daß gar nicht weiter ins Gewicht fällt, wie er diese Masse doch eigentlich zu verachten beginnt, wie ein tiefes Bewußtsein von Auserwähltheit ihn erfaßt, während der Bürgertrupp der Aufrechten – „Da sind sie wieder, die Herren der Unterhaltungsabteilung, bitte, bitte, soviel Zeit muß sein“ – elastisch albern durchs Foyer federt.

Niemals würde ein solcher Stockmann zum Volksfeind erklärt. Wer so reden, wer so konferieren, wer das Medium so bedienen kann, der hat auf allen Kanälen gewonnen! Diese Figur kann nicht mehr demontiert werden, und mit der Schlußarie des großen, falschen Gefühls zeigt Kriegenburg, daß er das weiß. „In der Poesie gibt es keine Widersprüche“, zitiert ein Schild Goethe in der Kassenhalle. Eine Warnung? Ein Verspechen? Die Aufführung lächelt und schweigt.

„Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen. Regie: Andreas Kriegenburg. Bühne: Robert Ebeling; mit Sibylle Brunner, Doreen Nixdorf, Alfred Eich, Adrian Furrer, Markus Graf, Roland Koch, Markwart Müller-Ellmau, Alexander Simon, Laurent Simonetti. Schauspiel Hannover

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen