Nenn es Katharsis, nenn es Exorzismus

■ Peter Plamper, 25, inszenierte am Berliner Ensemble das „Projekt RAF“. Das BE untersucht nämlich „die Geschichte revolutionärer Gewalt im 20. Jahrhundert“

Jahrestage können normalerweise von Glück sagen, wenn sie ein paar Filmretrospektiven oder Besinnungsaufsätze hervorlocken. „20 Jahre Deutscher Herbst“ aber ist offenbar ein anderes Datum. Nach Heinrich Breloers „Todesspiel“, das gerade seine dritte Wiederholung erlebte, nach unzähligen Lesungen, neuen Retro-Romanen und Fernsehkonfrontationen zwischen ehemaligen Tätern und ihren Opfern wird immer klarer, daß sich da im kollektiven Gedächtnisgebälk knirschend etwas verschoben hat. Nenn es Katharsis, nenn es Exorzismus – inzwischen lesen sich Texte von Baader ebenso bizarr wie Ausprüche von Herold. We've come a long way, baby.

Hoch oben auf drei Leitern, die ganze Bühne in Stammheim-Grau, hatte der Regisseur Paul Plamper die drei Schauspieler postiert, die am Samstag abend im Berliner Ensemble Briefe von RAF-Häftlingen rezitierten. Da hingen sie, Füße in der Luft, als Traumtänzer in Büßer-Weiß, Anstaltsirre und fabulierende, strenge Propheten, und warfen lange Schatten an die Wände. Mit totenbleichen Gesichtern, die fischigen Blicke in eine apokalyptische Ferne gerichtet, zitieren sie aus den Briefen, die sich Raspe, Meinhof, Baader, Ensslin, Möller und so weiter im Gefängnis schrieben.

Aus der Sammlung „das info – briefe von gefangenen aus der raf“, die 1987 von Pieter Bakker Schut herausgegeben wurde, hat Plamper eine Auswahl getroffen, die grell ausleuchtet, was in den dürren Worten an Selbsteinschätzung zu finden ist. Die „Slam- Poetry“, die auf diese Weise entsteht, wird von zwei Schlagzeugern unverschämt angeswingt: raf 'n' roll, ohne dabei allerdings irgendeine Unschärfe aufkommen zu lassen.

Viel genauer als das beispielsweise in Filmen wie „Bleierne Zeit“ oder „Stammheim“ geschah, die das Ganze schwermütig als eine Art Passionsgeschichte lasen, wird hier sorgfältig herausgemeißelt, welche groben Umbauten die Gefangenen an sich vorgenommen hatten. „es ist DER TODFEIND IN MIR SELBST, – das schwein will ausweichen. dasselbe: bei kritik oder selbstkritik geht dem deserteur gleich der ganze boden weg, fällt er erstmal ins loch oder dreht sich selbst total durchn wolf. also, feige das schwein: entweder eins A oder gar nichts. entweder diese macken bringen mich um, oder ich sie. (...) das schwein, wie alles alte zähe flieht einfach vor dem tod. ich denke, jetzt stech ich die fette sau ab...“ Und so weiter, Orgien der Selbstzerfleischung, gegen die die (immerhin noch erzwungenen) Rituale der chinesischen Kulturrevolution, denen sie abgeschaut sind, wie Kindergeburtstage wirken.

Normalerweise begegneten einem diese Texte in einer Auswahl, die sie letztlich zu Belegen für den Mythos von der großen Mordnacht in Stammheim machen sollen. Texte beispielsweise, die von Ulrike Meinhof noch im toten Trakt von Köln-Ossendorf geschrieben wurden, in denen sie die Qualen der Isolation beschreibt. Indem Plamper auf solche Texte im wesentlichen verzichtet hat, wird das Selbstgezimmerte der Lage, in der sich die Inhaftierten 1977 befanden, wieder klarer.

Plamper ist 25 Jahre alt, was ihn in die glückliche Lage versetzt, von der verdrucksten Schuldhaftigkeit, wie sie noch aus „Bleierne Zeit“ spricht, völlig frei zu sein. Er hat mehrere Assistenzen bei Heiner Müller, Peter Zadek, Robert Wilson oder Werner Schroeter hinter sich und ist nun am BE-Projekt „Annäherung an die revolutionäre Gewalt im 20. Jahrhundert“ beteiligt. Plamper kann die RAF-Texte lesen wie Strandgut, mal funkeln lassen, mal verdüstern. Er springt auf den Black-Panther-Slang, den die RAF-Leute benutzten („pig“, „flip“, „break“), ebenso an wie auf das pseudo-proletarische („Fresse“, „Scheiße“) oder Brecht-Merksatzartige, bis es lacht. So heißt es in einem kurzen Kassiber von Gudrun Ensslin: „egal woher einer kommt und wie er das, was er machen muß, macht – er ist kein auto.“ Mariam Lau