Die Superflutschfunktionieridee

In einem Förderpaket der Familienministerin Claudia Nolte ist „Laß das“, ein Aufklärungscomic über sexuellen Mißbrauch, vom Kölner Verein Zartbitter herausgegeben worden. Wer kontrolliert die Standards des Kinderschutzes?  ■ Von Mariam Lau

Für Kinderschutzpolitik, so konstatiert der Berliner Pädagogikprofessor Reinhart Wolff, gibt es zwei Konjunkturen: einmal das Sommerloch und dann die Weihnachtszeit. Den Sommer hatte die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Claudia Nolte, dazu genutzt, ein „Arbeitsprogramm“ zum Kinderschutz aufzulegen, dessen spektakulärstes Ergebnis bislang ein vom Kölner Verein Zartbitter herausgegebener Comic mit dem Titel „Laß das – nimm die Finger weg“ ist.

Spektakulär ist daran nicht nur, daß Frau Nolte sich mit dieser finanziellen Schirmherrschaft hinter eine Einrichtung stellt, die spätestens seit den großen Mißbrauchsprozessen in Worms und Münster in recht zweifelhaftem Licht erscheint. Spektakulär ist vor allem das Weltbild, das die Autoren Ursula Enders, Ulfert Böhme und Dorothee Wolters zeichnen, und das um so mehr, wenn man den Comic etwa mit jenen Aufklärungsbüchern vergleicht, die noch in den siebziger Jahren verbeitet wurden. Diese zeigten oft Fotografien von nackten Kindern und Erwachsenen, die gelassen mit Intimität und Individualität experimentieren – wie beispielsweise der kürzlich erst wieder unter Beschuß geratene Will-McBride-Band „Zeig mal“.

Demgegenüber wirken die Kinder hier wie fleischgewordene Feuermelder in Signalfarben. Sie heißen Katharina (!), Savita, Lina, Ahmed, Till oder Leo. Die 11 Sequenzen – „Nur lieb gemeint“, „Sonst schmeißen wir mit Dreck“, „Zieh Leine“, „Nicht nur toll“ oder „Mach mit“ folgen mit einer Ausnahme immer dem gleichen Schema. Die Kinder haben sich ein Spiel ausgedacht („Supertollflutschfunktionieridee“) und sind gerade mit Hund und Eichhörnchen darin vertieft, als von irgendwoher eine Gefahr auftaucht: ein anonymer Anrufer („stöhn“, „grunz“), zärtelnde Passanten im Supermarkt, „Pimmelzeiger“ vor dem Haus, „Grabscher“ im Kino, „Schniedelabspritzer“ in der Sporthalle, „Zwangsküsser“ auf dem Schulhof, „doofe Babysitterinnen“, die ihre Schützlinge zu Hause küssen oder beim Pinkeln anstarren wollen, und Onkels, die ihren Nichten im Schwimmbecken an den Po fassen.

Die Kinder haben Angst, tun sich, durchweg auf Initiative der beteiligten Mädchen, zusammen und vertreiben den Angreifer in öffentlichen Denunziationsriten: „Pimmelzeiger weg, sonst schmeißen wir mit Dreck“, „Und ich sag's meiner Mutter und die macht dich zur Schnecke“, „Noch einmal und wir holen die Polizei“. Fast nicht erwähnenswert, daß hier ein Kontinuum, eine Gleichung zwischen Küssen unter Gleichaltrigen auf dem Schulhof, Exhibitionismus, tantigen Tätscheleien und sexuellen Mißbrauchsverhältnissen hergestellt wird.

Da die exorzistischen Tätervertreibungsrituale von hitzigen Beratungen vorbereitet werden („und dann können wir noch... tuschel, tuschel... wisper... flüster“), kann man sagen, daß die Kinder mehr oder weniger rund um die Uhr mit der Abwehr sexueller Übergriffe beschäftigt sind. Das letzte Bild, das ein Spielplatzfest zeigt, rückt den Betrachter in weite Ferne hinter einen Busch, in die Angreifer- oder Voyeursperspektive, aus der die Kinder zu einem kleinen, wehrhaften gallischen Dorf zusammenschrumpfen. Eine Gefahr, so die Suggestion, ist immer präsent, und sie steckt in uns allen.

Der Begriff von Aufklärung, unter dem hier die Beratungsstelle Zartbitter mit Unterstützung eines Bundesministeriums agiert, erscheint vielen Kritikern höchst zweifelhaft. Untersuchungen über den Einsatz solcher „Informationsmaterialien“, wie sie in den USA seit längerem durchgeführt wurden, zeigen, daß diese Art kognitiver Ansätze bei Kindern, die selbst keine Mißbrauchserfahrungen haben, überhaupt nichts erreichen, weder schaden noch nutzen. Bei Kindern aber, die ohnehin Angst haben, weil sie in irgendeiner Form betroffen sind, steigern sie die Panik: Wenn die ganze Welt so funktioniert, wenn überall neue Gefahren lauern, dann nützt auch der Kindermob gegen den einen „Grabscher-Onkel“ nichts.

Für Reinhart Wolff besteht das Problem mit dem gesamten Kinderschutzpaket aus dem Haus Nolte darin, daß es ein „bunter Mix“ aus ebenso beifallsträchtigen wie ineffizienten Verwaltungsakten ist, die einander widersprechen. So würde einerseits der Kinderschutzbund oder die Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutzzentren gefördert, die von den Beratungsstellen längst zu den „Täter-Sympathisanten“ gezählt werden, andererseits eben auch Zartbitter mit dieser Broschüre oder die Münsteraner Informationsstelle unter Leitung des Kinderpsychiaters Tilmann Fürniss, die beide von einer Art Omnipräsenz des Mißbrauchs ausgehen. Aber da die 800.000 Mark, die für diese Fördermaßnahmen veranschlagt wurden, ohnehin bestenfalls eine Portokasse ausstatten, wird sich der Schaden in Grenzen halten.

Wolff vermißt vor allem, was in den USA und Großbritannien längst in Gang gekommen ist: eine umfangreiche Qualitätsprüfung beim Kinderschutz. „Nach jedem Flugzeugabsturz reisen sofort Experten an, um mittels Flugschreibern die Katastrophe zu rekonstruieren. Das gilt für soziale Hilfssysteme und vor allem die Kinderschutzarbeit nicht. Es gibt hier weder eine professionelle Tradition noch differenzierte Standards und Methoden der Qualitätssicherung. Das Interesse, Prozeßfehler systematisch zu untersuchen, ist gering.“ Traumatisierungen durch „übereifriges Intervenieren, Aufspalten von Familien und wiederholte Fremdunterbringungen“, wie sie der englische Kinderpsychiater David P. Jones untersucht hat, finden hier kaum Erwähnung.

Der Widerspruch zwischen der juristischen Entscheidung zugunsten der Angeklagten in Worms und Münster und dem davon nicht zu irritierenden Plädoyer „schuldig“ durch Zartbitter war der Behörde keine Nachfrage wert. Dabei wäre gerade die Überprüfung der Standards und die Qualitätssicherung eine sinnvolle Investition auf Bundesebene, da der eigentliche Kinderschutz Ländersache ist.

Zu einem der größten Qualitätsrisiken rechnet Wolff in seiner vom Kinderschutzzentrum Mainz herausgegebenen Broschüre den Verlust professioneller Differenzierungen. Nicht nur werde eine komplexe „System-Fehlfunktion“, als die er den Mißbrauch betrachtet, aufgelöst in einfache binäre Schemata von Tätern und Opfern. Entdifferenziert würden auch die sozialen Funktionssysteme, zum Beispiel Beratungsstellen einerseits und Strafverfolgungsbehörden andererseits: „Man weiß nicht mehr, ob man sich in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren befindet, oder ob einem geholfen werden soll.“

Ursula Enders, Ulfert Boehme, Dorothee Wolters: „Laß das – nimm die Finger weg“. Anrich Verlag, 1997, 16, 80 DM.

Reinhart Wolff: „Kinderschutz auf dem Prüfstand. Überlegungen zur Notwendigkeit von Qualitätssicherung“. Die Broschüre ist zu beziehen über: Kinderschutzzentrum Mainz, Lessingstraße 25, 55118 Mainz