Der lange und schwierige Weg zur Befreiung

Erhart Neuberts Buch über die Geschichte der DDR-Opposition hat das Zeug zu einem Standardwerk  ■ Von Martin Jander

Ehrhart Neuberts umfangreiche Geschichte der DDR-Opposition – seit gestern im Buchhandel – ist vieles zugleich: Geschichtsschreibung, Dokumentation, kritische Selbstreflexion eines Beteiligten und Aufforderung zur Debatte. Der Autor versteht seine Darstellung ausdrücklich als „parteilich“ im Sinne der Opposition.

13 Jahre sind seit dem Erscheinen der ersten Gesamtdarstellung der DDR-Opposition von Karl Wilhelm Fricke vergangen. Zwar gab es daneben eine große Anzahl verstreuter Einzeldarstellungen, ein fundierter Überblick jedoch fehlte bislang. In 106 Kapiteln hat Neubert jetzt vorhandene Darstellungen zusammengetragen und um viele wesentliche, bislang unbekannte Zusammenhänge ergänzt. Unverständlich nur, warum er in vielen Fällen keine Quellenangaben macht. Der größte Teil der Arbeit behandelt die Zeit seit dem Mauerbau. Entstanden ist ein bis in einzelne Biographien hinein sehr plastisches Panorama.

Das Buch ist bislang einzigartig, denn Neubert ist auf der Suche nach den ideellen und geistigen Potenzen von Widerstand und politischer Gegnerschaft. Er verwendet die Quellen des Repressionsapparates sehr zurückhaltend. Viele der dagegen breit zitierten und nacherzählten Samisdat-Quellen waren bislang nur dem engsten Kreis ihrer Autoren zugänglich.

Neubert nimmt mit dieser ideengeschichtlichen Darstellung eine Grunderfahrung der Oppositionellen in der DDR ernst. Nach dem Nationalsozialismus, der erzwungenen Befreiung durch die Anti-Hitler-Koalition, der Errichtung einer totalitären Diktatur in der DDR, die sich auf Teile des Antinaziwiderstandes berief, und der Zerschlagung des nationalen und demokratischen Widerstandes der 50er Jahre mußten Oppositionelle und Widerständler in der DDR ihre politische Gegnerschaft auch geistig neu erfinden. Neubert bezeichnet dies als einen Prozeß „umständlicher geistiger und politischer Befreiung“.

Eingeklemmt zwischen totalitärer SED und atomisierter Gesellschaft, buchstäblich einzementiert in die europäische Nachkriegsordnung, konfrontiert nicht nur mit westdeutscher Politik, die sich nach dem Mauerbau mit nur wenigen Ausnahmen am Status quo orientierte, waren DDR-Oppositionelle nicht nur einsam. Sie fanden im Unterschied zu Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei auch kaum politische, nationale oder soziale Widerstandstraditionen vor, auf die sie sich guten Gewissens hätten berufen können.

Die Darstellung der verschiedenen marxistischen, anarchistischen, christlich-sozialethischen Motive und Traditionen, die in dieser Situation trotz alledem eine Perspektive auf Veränderung und Legitimation eigenständigen Handelns boten, ist somit der eigentliche Clou der Arbeit. Robert Havemanns Idee und Einmischung im Namen eines gesamtdeutschen demokratischen Sozialismus und Heino Falckes Wort und Engagement für eine „verbesserliche Kirche im verbesserlichen Sozialismus“ sieht Neubert vor allem in ihrer Verbindung als wesentliche Tradition der DDR-Opposition nach dem Mauerbau. Der christlich-sozialethischen Tradition mißt Neubert, der 1990 eine programmatische Schrift unter dem Titel „Eine protestantische Revolution“ veröffentlichte, die größere Bedeutung bei. Dableiben im Protest erhielt einen Sinn.

Gelegentlich übertreibt der Autor die Bedeutung der christlich- sozialethischen Tradition. So behauptet er zum Beispiel, der in Luckenwalde geborene Rudi Dutschke sei Diakon gewesen.

Die Darstellung ist jedoch keine reine Ideengeschichte. Detailliert schildert Neubert Scheitern und Wiederaufnahme der unterschiedlichen Formen und Ansätze, der SED und der Kirche Räume politischen Handelns abzutrotzen. Er legt damit erstmals eine kleine Organisationsgeschichte vor. Zum ersten Mal erhalten die Leser auch eine breit angelegte Schilderung der seit 1983 jährlich stattfindenden Basisgruppenseminare „Frieden konkret“, die den unmittelbaren Vorlauf zur Konstitutierung des Neuen Forums und anderer Gruppen im Sommer und Herbst 1989 bildeten.

Die selbstkritische Reflexion hat der Theologe Neubert eher zwischen den Zeilen versteckt. Er deutet an, welche Probleme sowohl marxistisch-links als auch christlich-sozialethisch denkende Dissidenten und Theologen hatten, ein „säkulares Politikverständnis“ zu entwickeln, das heißt zur Idee und zu einer Politik der Menschenrechte vorzustoßen. Das utopische Denken selbst, das ihnen überhaupt erst Legitimation im Konflikt zu versprechen schien, mußten sie hinter sich lassen. Die Passagen über die Auseinandersetzung der DDR-Opposition mit dem Antifaschismus der SED sind im Detail sehr interessant, zeigen aber gerade, daß von einer breiten Auseinandersetzung nicht gesprochen werden kann. Sehr undeutlich fällt auch die Beschreibung der Differenzen und Konflikte zwischen Oppositionellen und „Ausreisern“ aus. Die mehrmals aufgestellte Behauptung, daß DDR-Oppositionelle mit dem Konzept der Blockfreiheit beider deutscher Staaten im Rahmen einer Jalta ablösenden europäischen Friedensordnung die mutigsten Vordenker einer nicht dem Status quo verpflichteten Politik gewesen seien, muß aus der Sicht des Rezensenten bestritten werden. Zweifellos war dies ein oppositionelles Konzept. Vor einem neutralen Deutschland ohne Westbindung aber fürchtete man sich damals und erschrickt man heute überall in West- und Osteuropa.

Ausdrücklich bestätigt Neubert die oft formulierte Kritik, die DDR-Opposition der 70er und 80er Jahre habe vorwiegend „systemimmanent“ gehandelt und gedacht. Politik und Öffentlichkeit der Bundesrepublik hätten diese Opposition aber „mißverstanden“. Der Verweis auf die Systemimmanenz sei in der alten Bundesrepublik dazu instrumentalisiert worden, die demokratische Pflicht der Einmischung in die „inneren Angelegenheiten“ der SED-Diktatur zu vernachlässigen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hätten Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit sich um die Stabilität der SED- Diktatur gekümmert und nicht um die unveräußerlichen Menschenrechte ihrer Bürger. Neubert bringt so das unaufgehobene Leiden an der Einsamkeit der systemimmanenten DDR-Opposition in die Geschichtsschreibung ein.

„Mißverstanden“ wurde und wird die DDR-Opposition, so Neubert, aber auch ganz existentiell. Irrtümlich glaubt er, die Mischung aus christlich-sozialethischen und linksmarxistischen Utopien sei bei alternativen Gruppierungen der Bundesrepublik nicht vorfindbar. Mit diesem Irrtum aber pflegt er die Seele der geschundenen ostdeutschen Bürgerrechtler.

Es bleibt zu hoffen, daß sie auch seine selbstkritische Darstellung annehmen, die – von westdeutschen Schreibern vorgetragen – gewöhnlich zurückgewiesen wird. Erhart Neubert hat ein Standardwerk vorgelegt, daß hoffentlich breite Annahme findet. Darüber hinaus bietet es eine wunderbare Gelegenheit zur Debatte.

Ehrhart Neubert: „Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989“. Ch. Links Verlag, Berlin 1997, 960 Seiten, 48 DM

Martin Jander ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsverbunds SED-Staat an der Freien Universität Berlin