„Das Sozialwort beunruhigt niemanden“

■ Friedhelm Hengsbach über die mangelnde Resonanz des Sozialworts der Kirchen

taz: Alle lobten das Sozialwort, doch warum bekümmert es sieben Monate später niemanden mehr?

Friedhelm Hengsbach: Das Sozialwort ist eine Gratwanderung. Die Kirchen verteidigen auf der einen Seite ganz traditionelle Elemente des Sozialstaats, der sozialen Marktwirtschaft, auch der Beschäftigungspolitik. Auf der andern Seite stößt es Reformkorridore auf: im Hinblick auf ein anderes Arbeitsverständis, auf gesellschaftliche Bewegungen und Initiativen, auf öko-soziale Marktwirtschaft, auf die globale Verantwortung. Doch in welche Richtung wird es gelesen: reformpolitisch oder traditionell, im Rahmen einer Großen Koalition zwischen Dreßler und Blüm? Das Papier in sich ist sehr schillernd.

Zu schillernd, um gründlich diskutiert zu werden?

Es hat nicht den Biß, daß etwa die Koalition, die man sicher packen könnte, sich beunruhigt fühlt. Zudem haben die Kirchenleitungen bei der Vorstellung des Papiers selbst ihren Beitrag dazu geleistet. Auf die Frage, gegen wen sich die Aussagen über ein gerechtes Steuersytem richten, sagten sie: gegen niemanden. Damit können sowohl Westerwelle als auch Gysi das Papier für sich in Anspruch nehmen.

Es wurde quasi totgelobt?

Das liegt einmal an der Interpretation der Kirchenleitungen, aber auch daran, daß sie ihren eigenen Beitrag dermaßen blaß- und weichreden. Außerdem nehmen sie selbst für sich nicht das ernst, was sie von der Wirtschaft und Politik abverlangen. Einmal heißt es: in Politik und Wirtschaft brauchen wir in Spitzenpositionen eine stärkere Beteiligung von Frauen, wir müssen die Arbeitszeiten so gestalten, daß sowohl Frauen als auch Männer Beruf und Familie miteinander vereinbaren können. Schaut man aber, was die Kirchen davon für sich verwirklichen wollen, sucht man vergeblich.

Fehlen Ihnen die Schlußfolgerungen für einen Wandel?

Die Kirchenleitungen gehen nicht in die politische Arena. Doch in den Gemeinden wird das Sozialwort gelesen und mit den Gewerkschaften an der Basis durchdekliniert. Im Wahlkampf 1998 wird es von unten her noch einmal eingebracht.

Derzeit versuchen die Bishöfe, dem Papier abermals Gehör zu verschaffen. Was raten Sie?

Sie sollten die politischen Entscheidungen und Diskussionen der vergangenen Monate – Steuerreform, Rentenreform, den Abbau der Arbeitsmarktpolitik, auch den weiteren Abbau der sozialen Sicherung – vergleichen mit den doch relativ klaren Positionen des Kirchenworts und damit öffentliche Meinung bilden. Und zwar genau gegen die gerichtet, die augenblicklich die politischen Entscheidungsprozesse in der Hand haben: also gegen die faktische Große Koalition. Interview: Annette Rogalla