Erinnerung aus Kohle und Lisol

Im alten Westberlin mußte man nicht über die Mauer, um in den Osten zu gelangen. Es reichte ein Besuch im Bahnhof Friedrichstraße. Kaum hatte man die S-Bahn verlassen, umhüllte einen jener Geruch aus Kohle und Lisol. Ohne diesen Geruch hätte es den Osten gar nicht gegeben. Man fuhr dorthin, um billigen Tabak und Whiskey zu besorgen. Ich war lange nicht mehr dort. Warum auch? Der Osten ist nur noch der Osten von Berlin.

Von der Einheit, über die alle reden, verstehe ich nicht viel. Teilung dagegen hat schon immer meine Welt ausgemacht. So gibt es, wie in allen Metropolen der Welt, auch in Berlin schöne und häßliche, elegante und langweilige, reichere, aufregende und spießige Stadtteile und Straßen. Doch was hat das mit der deutschen Einheit zu tun?

Die deutsche Teilung war eine Tatsache. Die deutsche Einheit aber ist nichts anderes als der Fall der Mauer. Nicht mehr und nicht weniger. Das läßt sich nirgendwo besser beobachten als in der Mitte von Berlin. Für einen Westberliner hat die Friedrichstraße als Schleuse in den Osten ausgedient. Wenn man heute von dem Ort spricht, denkt man eher an die Straße als an den Bahnhof. Der gar kein richtiger Bahnhof ist, sondern eine S-Bahn-Haltestelle in der Mitte einer Stadt, die keine Mitte hat. Ein Labyrinth unter vielen. In der Erinnerung sind Gerüche beständiger als Worte und Bilder. Zafer Șenocak

Zafer Șenocak, 1961 in der Türkei geboren und seit 1970 in Deutschland, zog 1988 nach (West-)Berlin. Er schreibt regelmäßig für die taz. „Die Prärie“, das jüngste Buch des Autors, erschien dieses Jahr im Hamburger Rotbuch-Verlag.