Wärmestube für Amokläufer

Daß sich die Erde auftut, ist eine alte Schreckensvorstellung. Sie erfüllt sich diskret bei allen Fahrten mit der Berliner S-Bahn, die in den flachen Abgrund ihrer Bahnhöfe führen. Sie vervielfältigt sich auf verwirrende Weise im Bahnhof Friedrichstraße: eine kleine Hölle, die Menschen zu Kreaturen macht, die durch sie getrieben werden wie eine Horde blinder Schweine.

Der Wagen zischt, die Luft steht, der graue Boden schluckt das Licht der trüben Funzeln wie nie gewesen. Das Pressekiosk ist geschlossen, Treppen und Rolltreppen sind verbarrikadiert, und hin und wieder fragt ein verstörtes Individuum das nächste: „Können Sie mir vielleicht sagen, wo.“ Aber keiner weiß wo, nur eine füllige Blondine mit grünem Scheitel kennt sich aus und brüllt vor einem Bennetton-Plakat durch alle Schächte: „Der hat mich angemacht, die schwarze Sau!“

Verlaufen habe ich mich immer dort. Seit Jahren aber ist schon nicht mehr festzustellen, ob man sich überhaupt geirrt, wenn man den metzgergekachelten Gängen folgt, die Bretterbehelfsgänge entlangstolpert, plötzlich auf der Straße steht: Allen anderen geht es ebenso.

Dieser Bahnhof ist ein Moloch aus Dreck, Gleichgültigkeit und Unverstand und würde in einem Bildband über Nord-Korea nur ein Aha hervorrufen: „Kein Wunder.“ Wir aber nutzen diesen Höllenschlund als einen Hauptbahnhof des öffentlichen Nahverkehrs. Und eine Wärmestube für Amokläufer: Hier ist bald jeder soweit. Elke Schmitter

Elke Schmitter, 36 Jahre, kam im Frühjahr 1989 aus Frankfurt am Main nach Berlin, zunächst als Literatur-, später als Chefredakteurin der taz. Heute arbeitet die gebürtige Krefelderin als freie Autorin, vor allem für die Zeit.