Deutschland!

Im Rahmen der Berliner Festwochen wurden allerlei theatralische „Deutschlandbilder“ in Auftrag gegeben. Bei Gabriella Bußacker und Jo Fabian sowie diversen Jungautoren. Parteiauftrag: ein Bild der neuen Deutschen? Keiner weiß, was das für Leute sind  ■ Von Petra Kohse

Drei neue Stücke gelesen. Geweint. (Stücke über Deutschland, später dazu mehr.) An Botho Strauß gedacht, schon wieder, seit Beginn der Berliner Festwochen etwa zum dritten Mal. Nicht an den Uckermärker natürlich, sondern an den Dramatiker. An „Schlußchor“, ein Stück, das gar nicht gezeigt wird, zum Festwochenthema „Deutschlandbilder“ aber paßt wie kein zweites. Unübertroffen ist der Anfang, wenn sich – Westler vor der Wende – fünfzehn Damen und Herren bei einem Klassentreffen zu einem Gruppenbild zusammentun, aber keine Ruhe finden, weil es ohn' Unterlaß aus ihnen plappert. Dann brüllt einer: „Deutschland!“ und alle erstarren – auch der Fotograf.

Fotograf: Tja. Damit hatte ich nicht gerechnet.

M 5: Damit hatte niemand von uns gerechnet!

F 1: Mit anderen Worten: Sie haben gar nicht abgedrückt?

M 9: Und gerade in der Sekunde hätte man sich später gern gesehen!

Fotograf: Ich war kurz davor.

F 6: Sie ahnen aber auch alles!

F 7: Sie haben einfach ein Gespür für alles!

M 3: Da können wir noch hundert Jahre hier posieren, den Ausdruck kriegen Sie von uns nie wieder.

F 4: Es läßt uns doch weiß Gott nicht jeder Pieps zusammenfahren!

F 12: Vorbei. Verpaßt. Umsonst.

M 15: Wir alle blicken jetzt auf uns zurück.

Deutschland, ein Wintermärchen und Herbsttrauma. Deutschland ist immer das, was gerade nicht bei der Hand ist. Vorbei. Verpaßt. Umsonst. So klingt, wenngleich anders instrumentiert, auch Gabriella Bußackers Deutschland- inszenierung, die als Westteil eines Festwochen-Doppelprogramms im Theater am Halleschen Ufer gezeigt wurde. Die andere Hälfte stammt von dem Ostberliner Regisseur Jo Fabian und war anschließend (oder zuvor, je nach Vorstellung) im Hebbel Theater zu sehen. „Deutschlandprojekt“ – mach dir ein Bildnis! Und das sieht so aus: Am Rande eines mit Grasteppich bezogenen Podestes steht eine nicht mehr ganz junge Frau mit einem Mikrofon. „Deutschland“, sagt sie schnell und heiser, dann: “keine Idee“, und: “deutscher Wald“. Aber sie habe Andreas Baader gekannt. Damals... Dennoch: Sie hätte mit Freunden etwas vorbereitet, nun ja, eine Show. Dann sieht man ein Video. „De Utschl And – Kommune 97“ nennt die 42jährige Hamburgerin ihre Arbeit, „De Utschl And“ – eine programmatische Ausdruckshemmung.

Im Video sieht man die sechs Darsteller als RAF-Sympathisantenveteranen und WG-geschädigte Spätergeborene an einem Tisch ihre Positionslosigkeit ausdiskutieren. Wacklige Aufnahmen, auf einen Glittervorhang projiziert. Später ziehen sich manche Schimpansenkostüme mit Jakobinermützen an, während die nicht mehr ganz junge Frau mit goldenen Laken und Stücken einer Ritterrüstung bedeckt wird. Ein ikonographisches Gepussel, das sich ohne Hast vollzieht, in Echtzeit, mit vielen Pausen: Sendepausen.

Das Drama sei „in den Reality- Shows der Medienwelt untergegangen“, läßt Bußacker im Programmheft wissen. Also holt sie ersatz- und versatzstückweise jene auf die Bühne. Theatralisch verzerrt natürlich und vorwurfsvoll umrankt von allerlei Spießerkitsch: Easy watching, schwer gemacht. Manchmal diskutieren die Darsteller mit ihren Leinwand- Egos, während längerer Videopassagen aber kriechen sie auf Knien herum – eine Selbstkasteiung vor der Leinwand, die genau die Art geschwätziger Kraftlosigkeit spiegelt, die doch eigentlich bloßgestellt werden soll.

Jo Fabian zeigt sich da wesentlich stilbewußter. Auch er arbeitet mit Video, konstruiert aber keine Beziehung zur Bühne. Acht Darsteller stehen mit dem Rücken zu einer himmelblauen Leinwand, über die sachte Wolken ziehen. Oben sieht man eine Digitalanzeige, die von 40 Minuten auf Null zählt: 40 Jahre DDR. Die Frauen tragen rote Kopftücher, einer hält stoisch eine Fahne hoch. Sie stehen und warten, der Fahnenträger spielt mit einem Gummiball, andere umarmen sich oder nicht. Dazu Musik – Rock, Industrial, am Ende klingt es wie „Pulp Fiction“. Bei Null ist es der 3. Oktober 1990, und die Gruppe kommt in Bewegung. Deutschland? Mühsame Versuche der Kontaktaufnahme mit den Brüdern und Schwestern im Publikum, die in Auflösung enden: halbnackt weinende Frauen, entgleist grinsende Jungmänner. Nur der Fahnenträger spielt ungerührt Ball.

„Pax Germania“ ist kaum mehr als ein Clip zum Thema, auf eine Stunde entschleunigt. Während Bußacker an einem Installationscharakter ihrer Arbeit fummelt, gelingt Fabian wie nebenbei aber etwas Skulpturales. Bezüglichkeit steht gegen Minimalismus, die Potpourrisierung gegen das Vertrauen in die Kraft der Stilisierung. Als Ergebnis einer ästhetischen West- Ost-Erkundung muß man das jetzt einfach mal so hinnehmen.

Das Ost-West-Thema zu überwinden, versucht ein weiteres Festwochenprojekt in der Baracke des Deutschen Theaters. Blick von außen heißt der Trick. Ein „Deutschlandbild“ des in Berlin lebenden Russen Alexej Schipenko lag bereits vor, zwei weitere Stücke über Berlin wurden in Auftrag gegeben bei dem Franzosen Gildas Milin und dem Schotten David Harrower. Es handelt sich um die drei eingangs beweinten neuen Stücke, die weitgehend realistisch gehalten sind und an drei verschiedenen Orten in Berlin am Donnerstag nacht nacheinander uraufgeführt wurden. Das wäre eigentlich nicht nötig gewesen. In dem französischen sprechen ernste junge Franzosen gleichnishaft über Berlin, die Kunst und die Wahrheit. In dem schottischen ziehen urbane Paare und Passanten skizzenhaft durch unspezifische Straßen- episoden, und das russische ist, immerhin einigermaßen berlinisch, eine Art 80er-Jahre-Sinnsucherkitsch: Einer sucht die Freiheit und schafft es nur bis in eine türkische Autowerkstatt. Sie muß ihm die Fremde sein, und losgelöst von seiner gewohnten Umgebung verliert er jeden Halt.

Immerhin: Was die Texte an realistischer Kraft entbehren, wird dadurch eingespielt, daß man in einem Bus, bedröhnt von Rammstein oder Schuberts „Winterreise“ durchs nächtliche Berlin zu den Aufführungsorten schippert, vorbei an Selbsthilfeläden, von echten Busfahrern mißtrauisch beäugt, hin zur Elisabethkirchenruine, später zum S-Bahnhof Potsdamer Platz und schließlich zurück in die Baracke des Deutschen Theaters. Dazwischen gibt es Tee, und jeder spricht mit wem er will: postheroischer Theaterbesuch.

Schipenkos Stück „Suzuki“ hat der Barackenchef Thomas Ostermeier zu Hause selbst inszeniert. Er macht aus den türkischen Automechanikern eine zärtliche Chorus Line, aus dem Berliner Möchtegernaussteiger (namens Klaus Klaus!) einen abgehalfterten Komödianten. Wort für Wort nimmt er so unverschämt ernst, daß unlautererweise alles ziemlich komisch wird, und sich das Publikum am Ende erleichtert bedankt. Handwerk kann alles retten, hier fragt man sich nur: wozu. Parteiauftrag: ein Bild der neuen Deutschen? In „Schlußchor“ sagt der Fotograf: „Kein Mensch weiß, was das für Leute sind.“