■ Der türkische Ministerpräsident Yilmaz trifft heute Kohl. Die Türkei will in die EU. Doch Ankaras Probleme löst auch die EU nicht
: Der falsche Traum von Europa

„Ist Demokratie ein politisches Ziel der USA im Nahen Osten?“ Diese Frage stellten sich Richard W. Murphy vom Council on Foreign Relations in Washington und Gregory Gause, Professor an der Universität Vermont, in der Januarausgabe von Middle East Policy. Die beiden Angehörigen der vielzitierten amerikanischen Think- tanks kamen zu dem Ergebnis: Die USA sind seit eh und je zögerlich, wenn es um die Unterstützung demokratischer Entwicklungen im Nahen Osten geht, denn auch mit unterdrückerischen Regimes der Region läßt es sich für die Amerikaner wunderbar leben. Hauptsache, das Öl fließt und die Geschäfte laufen reibungslos weiter. Ein berechenbarer Status quo sei allemal besser als „der Ausbruch des Chaos“ nach eventuellen Demokratisierungsmaßnahmen.

So lautet Murphys Gesetz bezüglich des Nahen Ostens: Die nächsten Wahlen jenseits des Bosporus sind bestimmt die schlechtesten für uns. „Die amerikanischen Politiker sollten keine Ängste haben, offen auszusprechen, daß die USA zwar nicht gegen demokratische Umwälzungen sind, sie aber auch nicht speziell fördern“, schreibt Murphy, „unsere Politik muß auf unseren Interessen basieren und nicht auf mahnenden Statements über unsere Werte.“

Nun, ein anderes Gesetz von Murphy könnte so lauten: Die nächsten Wahlen im eigenen Land sind bestimmt die schlechtesten für uns – falls es herauskommt, daß wir wieder einmal unsere Hände im geheimen in Blut gebadet haben. Nicht zuletzt deshalb ist Außenpolitik eine Gratwanderung zwischen Idealen und Interessen, offener Diplomatie und geheimen Operationen, oder, wie im deutschen Fall, zwischen Großmachtambitionen und kleinstaatlichem Innenleben, zwischen kritischem Dialog und positiven Außenhandelsbilanzen.

Was wird nun Helmut Kohl seinem ausgesprochen germanophilen Kollegen Mesut Yilmaz heute bei dessen Staatsbesuch erzählen? Daß er es zwar nicht so ernst gemeint hat mit der EU als christlichem Klub, daß sich die Türkei jedoch noch ein bißchen gedulden möge? Daß Deutschland ja gerne seinen Verpflichtungen aus der Zollunion nachkäme, wären da nicht die bösen Griechen, die die EU-Gelder für Ankara blockierten? Daß seine Berater lange Zeit auf ihn eingeredet haben, man könne doch auch gut mit den Islamisten an der Spitze leben, aber man jetzt froh ist, daß die Armee ihnen den Garaus gemacht hat? Wird Kohl Yilmaz nur wiederholen, was Kinkel seinem Amtskollegen Cem kürzlich in Bonn gesagt hat, nämlich daß die Türkei „keineswegs auf dem Abstellgleis“ stehe, aber erst einmal „ihre Hausaufgaben machen“ müsse, um an die EU-Tür zu klopfen?

So ungefähr wird das Gespräch Kohl–Yilmaz laufen. Yilmaz wird den EU-Beitrittswunsch wieder einmal zur Sprache bringen. Er wird vielleicht sogar, offen oder hinter den Kulissen, verlautbaren lassen, daß Ankara die vielgefürchtete Freizügigkeit der Türken ruhig um 20 Jahre verschieben könne, falls die Türkei endlich in die erlauchte Runde aufgenommen würde. Yilmaz wird von den festen Absichten seiner Koalitionsregierung mit den Sozialdemokraten sprechen, die breite Palette von Problemen (von der Inflation bis hin zu Menschenrechten) des Landes zu lösen, und der deutsche Kanzler wird, wenn er mit der EU-Sache zu sehr bedrängt wird, mahnende Worte aussprechen, ohne jedoch seine Zufriedenheit über den „Sieg“ der Laizisten über die Islamisten zu verschweigen. Yilmaz wird vielleicht erwähnen, daß die Türkei „allein durch ihre geographische Lage ein sehr wichtiger Partner für uns“ sei. Eine Zusage für den EU-Beitritt wird Yilmaz nicht bekommen, auch keine Versprechungen, was deutschen Druck auf Athen angeht, damit die bitter benötigten Gelder aus Brüssel endlich in die türkische Staatskasse fließen.

Und was erwarten die Türken hierzulande vom Besuch Mesut Yilmaz'? Auch das Übliche: Die türkische Regierung solle sich doch endlich seiner Bürger im Ausland annehmen, auf Bonn mehr Druck machen, damit die doppelte Staatsbürgerschaft von deutscher Seite akzeptiert wird, und ihnen in der Heimatpolitik endlich ein Mitspracherecht einräumen. In diesem letzten Punkt verspricht Yilmaz einiges. Innerhalb der nächsten sechs Monate soll ein Gesetz in Ankara verabschiedet werden, das die langersehnte Briefwahl ermöglicht. Hoffen wir das Beste, rechnen wir mit dem Schlimmsten. Denn wie auch der „Hohe Rat der Auslandstürken“, den die Yilmaz-Regierung über Nacht gegründet hat, scheinen auch andere Beschlüsse Provisorien zu sein, auf das Ziel gerichtet, der Koalition bei der nächsten Wahl Stimmen einzubringen. Diese werden wohl im nächsten Jahr stattfinden.

Die Probleme der Türken, manche hausgemacht, andere der vielzitierten Globalisierung geschuldet, sind so vielfältig, daß keine Regierung es leicht hätte, sie zu lösen. Der EU-Beitritt ist da zweitrangiger Natur. Dies ist nunmehr auch in der Türkei verstanden worden – die jahrhundertealte Westorientierung ist ein unumkehrbarer Prozeß und dermaßen in der Gesellschaft verankert, so daß ein Umschalten auf den Islam im Alltag und in der Politik nicht ohne Widerstand vonstatten ginge. Die Islamisten heimsen Sympathien ein, weil den türkischen Regierungen Entscheidendes nicht gelingen will: mehr Gerechtigkeit und ein menschenwürdiges Leben. Einzig und allein darauf kommt es an.

Das von einer Vollmitgliedschaft in der EU zu erwarten, ist nicht nur zu viel, sondern schlicht falsch. Während die EU allein durch die Zollunion ihre Bedürfnisse gedeckt hat und mit einer Politik des „bon pour l'Orient“ ganz gut leben kann, und während sich eine Reihe von türkischen Unternehmen durch den Handel mit der EU eine goldene Nase verdient haben, wird die türkische Staatskasse immer leerer. Mittelständische und kleine Firmen gehen aufgrund der europäischen Konkurrenz kaputt, und die Profite fließen, durch die Unfähigkeit des Staates, Steuern einzutreiben und seinen fehlenden Willen, den Reichtum gerecht zu verteilen, in die Taschen weniger. So wird es für die Mehrheit der Türken endlich Zeit, von dem goldenen Traum EU Abschied zu nehmen und die Wirtschaft, der es ganz und gar nicht schlecht geht, durch eine gerechtere Politik neu zu ordnen. Dazu sind die nächsten Wahlen da, in der auch die Auslandstürken mitmischen können – wäre da nicht das andere Gesetz von Murphy: Die Partei, die ich wähle, wird bestimmt verlieren. Dilek Zaptçioglu