Männchenmeere, lyrisch polygam

Nachdem eine dreibändige Werkausgabe längst vergriffen und die Sammlung Luchterhand, in der Jandls Gedichtbände zuerst erschienen sind, aufgelöst wurde, hat sich der Verlag zu einer neuen Werkausgabe entschlossen. Die bringt zwar nichts wirklich Neues, versammelt dafür aber sämtliche bereits erschienenen Publikationen handlich in zehn Bänden und einem Schuber.

Fragt man indes Jandls Kollegen und Kolleginnen nach ihrem liebsten Jandl-Gedicht, reagieren zunächst alle gleich. Die Aufgabe überfordert sie: Wie ein einziges aus so vielen Lieblingsgedichten auswählen? Nein, da müsse man sich Zeit nehmen. Na ja, wenn es denn schon eines sein muß, dann vielleicht dieses, obwohl...

Mit den Gedichten des 1925 in Wien geborenen Jandl leben Dichter und Dichterin in lyrischer Polygamie. „Ich kenne sie alle auswendig“, beteuert H. C. Artmann, „meine nicht, aber die vom Jandl“, und nominiert nach kurzer Nachdenkpause „wien: heldenplatz“, jene sprachgewaltig sprachzersetzende Darstellung von Hitlers bejubeltem Auftritt im besetzten Wien von 1938, die mit den Zeilen beginnt: „der glanze heldenplatz zirka / versaggerte in maschenhaftem männchenmeere / drunter auch frauen die ans maskelknie / zu heften heftig sich versuchten, hoffensdick. / und brüllzten wesentlich.“ Der Bachmann-Preisträger Franzobel hat sich dagegen für die „franz hochedlingergasse“ entschieden („wo gehen ich/ liegen spucken/ wursten von hunden/ saufenkotz [...]“), während Marlene Streeruwitz zu Jandls jüngsten Band „peter und die kuh“ gegriffen und „die knie“ gewählt hat: „meine knie sind wund / also knie ich nicht nieder / das eine ist spitz / das andere ist rund / beide sind mir zuwider“.

Dennoch: Ernst Jandl ist alles andere als ein „poet's poet“. Er ist populär, von Kollegen, Kritikern und Literaturwissenschaftlern ebenso geschätzt wie von einer breiten Schicht von Lesern und Hörern(!), die im Spezialfall der Lyrik schon als Massenpublikum gelten müssen. Selbst lange Zeit Lehrer ist Jandl einer der beliebtesten „Lesebuchautoren“, und kaum jemand, der nicht ein paar Zeilen auswendig kann. Klaus Nüchtern

Ernst Jandl: „Poetische Werke“. Luchterhand Verlag, München 1997, 10 Bände, insgesamt 2.088 Seiten, 198 DM