"Im Leben ist alles unvollständig"

■ Das heißt aber noch lange nicht, daß alles besser wird, wenn man weg ist. Immerhin: Hier und da gelingt etwas. Der Wiener Poet Ernst Jandl über Sinnballast und Nonsens, Autoren und Motoren, Schaffensdran

taz: Wenn Sie auf Ihr Werk, das jetzt in einer neuen, zehnbändigen Ausgabe vorliegt, zurückblicken – nehmen Sie da selbst verschiedene Perioden wahr? Es gibt ja Leute, die sagen, bei Jandl war alles von Anfang an vorhanden.

Ernst Jandl: Das kann ich sicher nicht sagen. Es gibt schon eine Anfangszeit, in der gewisse Einflüsse – etwa von Jacques Prévert, Brecht oder Benn – noch stark sichtbar waren. Dann lief diese Periode aus, und es kam der Versuch, anderes als Vorbild zu benützen, und das war vor allem einmal die Gertrude Stein. Später öffneten sich der Expressionismus, der Dadaismus und extremere Formen der Dichtung.

In der ersten Periode war der intensivste, wenn nicht sogar der einzige literarische Kontakt der mit Andreas Okopenko, dessen Lyrik mir äußerst imponierte. Seit Mitte der 50er Jahre kamen Friederike Mayröcker, H.C. Artmann und Gerhard Rühm dazu. Das war sicher eine sehr wichtige und sehr produktive Zeit. Ich geriet dann irgendwie in den Ruf, ein konkreter Dichter zu sein. Und obwohl man verschiedene Sachen durchaus zur konkreten Dichtung zählen kann, so war es mir dann nicht angenehm, nur auf dieser einen Bahn gesehen zu werden.

Der große Umschwung war die Veröffentlichung des Bandes „dingfest“, der Gedichte enthielt, die an meinen ersten Band, „Andere Augen“ anschließen und die parallel zu den experimentellen Gedichten weitergeführt wurden. Die Welt wurde in deutlicherer Weise in das Gedicht hereingeholt, als das in der strikt experimentellen Zeit der Fall war. Schließlich kam Anfang der 90er Jahre als ein großes Erlebnis für mich die Beschäftigung mit dem Dialekt. Das Ergebnis sind die „stanzen“, vierzeilige, reimende, zumeist sehr pointierte Gedichte.

In bezug auf die „stanzen“ haben Sie von einem „Motor“ gesprochen, den „anzuwerfen“ Ihnen gelungen sei. Gibt es da mehrere Apparaturen, die Sie von Zeit zu Zeit anwerfen können?

Wenn einmal eine erkennbare Phase einsetzt, wird schon eine Art Motor aktiv, der dann bis zu einem gewissen Grad für sich selber arbeitet – natürlich für den Autor und unter dessen Aufsicht. Das ist das Beste. Sonst muß man etwas kürzertreten.

Gibt's derzeit einen produktiven Motor?

Nein, den gibt's in mir jetzt nicht.

Und wenn es nicht läuft, nehmen Sie das mit einer gewissen Gelassenheit, oder stürzt Sie das in Verzweiflung?

Es gibt unangenehme Zustände, depressive Zustände.

Welche Aufgaben stellt man sich, um die Sache sozusagen am Laufen zu halten?

Wie soll man sich Aufgaben stellen, außer: Gedichte schreiben? Die Aufgabe finden, das ist schon die Hälfte der Arbeit. Natürlich kann man irgend etwas hinschmieren, nur sieht man damit selten eine Aufgabe erfüllt, die man sich gestellt hätte. In der Phase der „stanzen“ hat sich die Aufgabe gestellt, aus allem möglichen Stanzen zu machen.

Geht es Ihnen nicht manchmal einfach darum, Sinnballast loszuwerden?

Unbedingt. Unbedingt. Aber es gibt Phasen, wo man einfach nicht in den Nonsens hineinkommt – man versucht's, aber es kommt lauter Dreck heraus.

Wollen Sie die Sprache gewissermaßen zur Musik „erlösen“?

Das wäre etwas überhöht ausgedrückt. Ich möchte die Sprache nicht erlösen. Ich möchte mich durch die Sprache erlösen. Hier und da gelingt's. Selten.

Was sind solche Momente?

Wenn einmal wirklich was gelungen ist – das kommt ja gar nicht so oft vor –, und wenn man dann auch noch sieht, wie ein Publikum auf ein Gedicht immer wieder reagiert und immer wieder so reagiert, wie man's haben möchte.

Was wären Beispiele dafür?

„wien: heldenplatz“, „chanson“, „ottos mops“, „auf dem Land“ ...

Lesen Sie eigentlich gern?

Ja.

Weil Sie selbst die Artikulation bestimmen können?

Nein. Ich freue mich auch, wenn jemand anderer ein Gedicht von mir ganz anders ausspricht, und ich merke, daß es gut gelungen ist.

Werden bestimmte Hits von Ihnen verlangt?

Zuweilen. „eulen“ zum Beispiel oder „ottos mops“.

Dave Brubeck muß immer „Take Five“ spielen.

(lacht) Jajaja. Das muß nicht sein, nein.

Es gibt Autoren, die mit dem Schreiben aufhören, weil sie alles gesagt haben – Aleksandar Tisma zum Beispiel. Wie sieht es denn bei Ihnen mit der Dialektik von Schaffensdrang und Schaffenszwang aus?

Natürlich weiß ich, daß es einmal aufhören wird, man hört ja selber auf. Aber der Drang weiterzumachen ist da. Solange man lebt, ist alles eigentlich unvollständig. Was nicht heißt, daß plötzlich alles vollständig wird, wenn man weg ist. So geht's leider auch nicht.

Man kann in Ihren Gedichten eine gewisse Bewegung zum Autobiographischen feststellen.

Es finden sich auch unter den sogenannten experimentellen Gedichten solche mit mehr oder weniger starken autobiographischen Zügen, die aber nicht so offen zutage liegen wie im letzten Band „peter und die kuh“.

Werden Sie auf die eigene Biographie gewissermaßen zurückgeworfen?

„Zurückgeworfen“ wäre übertrieben. Ich verwende das eigene Leben bewußt als Material.

Es gibt sehr bittere Zeilen wie etwa „glück ist: sich und die mutter bei der geburt zu töten“.

(lacht) Jaja – natürlich. Diese Zeilen sind auch insofern erlebt, als sie gedacht sind und als dieses Denken aus dem Bestand des eigenen Lebens und Erlebens herauswächst. Aber ich bin nicht einzigartig und glaube, daß auch bittere Erfahrungen von anderen geteilt werden.

„das vertauschte kind“ handelt von einer Mutter, die darüber nachdenkt, ob ihr nicht eigentlich ein fremdes Kind unterschoben wurde.

Ich habe als Kind – nicht auf mich bezogen – solche Überlegungen schon gehört, die sind erinnert.

Und wie haben Sie als Kind darauf reagiert?

Gar ned.

Es gibt im letzten Band das sarkastische Gedicht „author's last choice“, in dem Sie Ihre ganzen Trophäen und Preise im Austausch gegen eine Achtzimmer- villa im Westen Wiens inklusive Personal anbieten. Ich nehme an, es hat sich noch niemand gemeldet.

Nein.

Ganz prosaisch: Wie verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?

Ich war einen beträchtlichen Teil meines Lebens Lehrer und beziehe auch eine Pension, die den Lebensunterhalt weitgehend deckt. Ich bin also nicht abhängig vom Schreiben. Ich halte meine Lesungen nicht gratis und verschenke auch meine Bücher nicht.

Die Tantiemen sind aber ...

... eher minimal oder sagen wir: bescheiden.

Sie waren und sind noch immer Mitglied der Sozialdemokratischen Partei?

Jaja. Ich bin schon als junger Lehrer in den Bund Sozialistischer Akademiker eingetreten, und dann kam nach einiger Zeit ein von Kreisky unterzeichnetes Schreiben, ob man nicht der Partei beitreten wollte. Ich habe keinen Grund gefunden, der Partei nicht beizutreten, es war meine Partei, und ich bin weiterhin dabei, ohne mich da überhaupt hervorgetan zu haben.

In den „idyllen“ gibt es auch zwei Zilk-Gedichte, in denen es unter anderem heißt, „wien ist, wo das zilk weidet./ jedem wiener sein zilk!“. Die wurden auch im Rahmen der Wahlwerbung verwendet. Hat man Sie da gefragt?

Ach, die wurden für diesen Zweck geschrieben. Da hat mich, glaub' ich, der Zilk selber gefragt.

Es sind doch aber auch einige ironische Brüche darin enthalten.

Jaja, aber das hat dem Zilk auch gar nix gemacht, er ist ein Mann mit Humor.

In einem Gedicht heißt es „jazz to my ears / TV to my eyes“. Schauen Sie viel fern?

Ich sehe mir fast täglich die Nachrichten an, sehe mir hier und da einen Film an – nicht unbedingt bis zum Ende. Aber ich habe nicht die Zeit und Lust, mich jeden Tag damit zu beschäftigen, was im Fernsehen unter Umständen für mich geboten wird.

Sind die Medien, ist die Sprache der Medien etwas, wogegen Sie sich mit ihrer Literatur behaupten wollen, die Sie als Gegner betrachten?

Generell würde ich das niemals sagen. Ich sehe auch keine Spur eines Sprachverfalls und habe gar nix dagegen, daß gewisse Ausdrücke zu Modewörtern werden. Die Jugend liebt Modewörter, warum nicht? Wir haben sie auch geliebt.

Zum Beispiel?

„Leiwand“ – ein altes Wort. Oder „klaß“ – „des is klaß“. Und es gibt Kürzel, die nicht unbedingt Modeworte sein müssen, aber die jeder verwendet: Wenn man sagt: „Das ist Scheiße“, no, ist es eben Scheiße. Wir wissen dann, was damit gemeint ist. Interview: Klaus Nüchtern