piwik no script img

Freiheit, die Ich meint

Einst war die Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin die gefürchtetste Irrenanstalt der Stadt. Heute ist die Enthospitalisierung dort fast abgeschlossen. Für die einen ist die Freiheit Bedrohung, für die andern eine Chance  ■ Von Barbara Dribbusch

Auf dem Flur bettelt Herr Laumann* jetzt schon zum achten Mal um eine Zigarette. Der weißhaarige Herr Ziegler will diesen Morgen liegend verbringen und dämmert auf dem weinroten Kunstledersofa, zusammengerollt wie ein Kleinkind. Auf ihrem Holzstuhl sitzt Frau Marder, heute ganz in Schwarz gekleidet, und starrt ins Leere. Trostlos, würden die Leute draußen sagen.

Aber was wissen die schon von der Psychiatrie.

„Reicht doch hier, alles“, versichert Frau Marder, „draußen, draußen lohnt nicht.“ Die Furche auf ihrer kalkweißen Stirn ist so tief, als hätte irgendwann jemand versucht, ihr den Schädel zu spalten. Die Angst vor der Welt hat sich eingegraben. Und sie ist in den letzten Monaten noch größer geworden.

Die 61jährige und ihre vier Mitbewohner sollen umziehen. Raus aus der Station 19, dem roten Backsteinbau der einst berüchtigten Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, und rein in den angrenzenden Stadtbezirk Reinickendorf, in betreute Wohngemeinschaften und Einzelapartments. Die „19“, die Chronikerstation wird zum Ende des Jahres endgültig geschlossen. Die fünf sind die „Rentner“ von „Bonnies Ranch“. Und sie wollen nicht gehen.

Draußen strahlt die Sonne, die Pappeln rauschen, auf der weiten Terasse warten Plastikstühle. Aber die Bewohner von Station 19 sitzen lieber drinnen auf dem Gang. Da kommt die Welt nur ab und zu als Windzug herein. Es reicht, sich am lauen Lüftchen zu erfreuen, zu rauchen, Kaffee zu trinken, zu warten. Ohne Kaffee und Zigaretten läuft nichts in der Psychiatrie. Durch den Flur zieht der Duft von Spargelcremesuppe – bei deren Zubereitung die Patienten jetzt eigentlich helfen sollten, um für „draußen“ zu üben. „Das mußten wir uns aber leider abschminken“, bedauert Pfleger Rainer Leichtenberger. Zu einer ordentlichen Klinik, so sähen es zumindest die Langzeitpatienten, gehöre nun mal die Bedienung.

Die Wände bleiben kahl, in den Köpfen ist es bunt

„Sportsommerfest haben wir hier. Kino. Den Kaufmannsladen. Den Frisiersalon. Und Kaffee-Tee- Ria“: Frau Marder spricht über „Bonnies Ranch“ wie über einen Ferienpark. Schön sei es hier, mit dem riesigen Grüngelände. Früher beackerten die Patienten Felder, auf denen Gemüse und Getreide wuchs, was der Klinik den Spitznamen gab. Frau Marder ist eine treue Patientin. Seit über 50 Jahren lebt sie in der Anstalt.

„Ich hab's schriftlich vom Senat“, behauptet sie, „ich kann bleiben.“ 30 Patienten haben die „19“ schon verlassen, die fünf sind die Nachhut der Enthospitalisierung, „die Schwächsten“, wie Leichtenberger sagt. 15 Zimmer am anderen Ende des Ganges sind unbewohnt, der halbleere Bau wirkt wie die Kulisse zur Schlußszene eines surrealen Theaterstücks. Jeder der fünf bewohnt heute einzeln ein Doppelzimmer mit Kiefernholzbetten und sanftgelben Bettbezügen. Doch die Idee mit dem Wandschmuck mußten die Pfleger aufgeben. Die Wände blieben kahl, denn in den Köpfen ist es bunt genug.

„Popel, da klebt ein Popel“, protestiert Frau Marder in der Küche und schwenkt eine Safttüte. Die andern, der nuschelnde Herr Laumann und der staksige Herr Ziegler, sind ihr schnell zu viel: „Die lassen immer beim Essen den Fernseher laufen, da verschluckt man sich doch.“ Sie hält es mit andern nicht lange aus, aber auch nicht lange mit sich selbst.

Alleine wohnen, das hat sie schon mal versucht, in einem Einzimmerapartment auf dem Klinikgelände. Es klappte nicht, Frau Marder fing wieder an herumzubrüllen. Wie auch heute. „Im Sarg wollt ihr mich heraustragen, im Sarg“, tobt sie, „auf den Friedhof soll ich, auf den Friedhof. Die Todesspritze soll ich kriegen!“ Dabei hat ihr Pflegerin Gerti Schipper nur mit ruhiger Stimme erklärt, daß sie bis zum Ende des Jahres umziehen soll, in die Kögelstraße, gar nicht so weit von der Klinik entfernt. In eine eigene Wohnung, in der Sozialarbeiter und Pfleger täglich nach ihr sehen.

Die Welt war Frau Marder immer fremd

Aber die Welt „draußen“ war immer fremd für Frau Marder. Keiner weiß mehr so genau, warum sie als junges Mädchen eigentlich in die Klinik gekommen war. „Verhaltensauffällig“ war sie damals, sagt Leichtenberger. Sie hat viel herumgeschrien in ihrer Angst und Wut. Sie hat 50 Jahre in der Klinik gelebt und noch die Zeiten erlebt, als die Ärzte Elektroschocks gaben. Als ständig Türen ins Schloß fielen und Schlüssel sich drehten. Als es auf „Bonnies“ noch eine Station für Inkontinente gab, die mit Holzwolle ausgelegt war wie ein Ziegenstall. Als ein schweres Eisentor die Klinik versperrte und sie mit Stacheldraht eingezäunt war.

Heute, meint der Pfleger Leichtenberger, würde ein solches Kind in die Frühförderung kommen, schlimmenstenfalls in ein Wohnheim für Verhaltensgestörte. Aber heute ist zu spät für Frau Marder. „Ich bin“, sagt sie, „was der Esel im Galopp verloren hat.“ Ihr Leben war die Klinik.

Günter Dost: Sein Horror sind verschlossene Türen

„Günter Dost“, sagt der ältere Herr höflich, „Günter ohne h.“ Der 57jährige ist mit dem Bus hierhergeschuckelt, fünf Stationen von „der WG“ bis zum Tageszentrum Waidmannslust. Wie fast jeden Tag hat er nach dem Frühstück die Doppelhaushälfte am Zabel-Krüger-Damm verlassen. Der große, kräftige Mann hat die Haustür mit dem altmodischen Klopfer hinter sich geschlossen und sorgfältig das Gartentörchen im Jägerzaum zugeklinkt. Günter Dost ist meistens unterwegs.

Sein Horror sind verschlossene Türen. „Die Klinik war schlimm“, erinnert er sich, „ständig die Schließer, Tür auf, Tür zu. 15 Jahre war ich auf Bonnies Ranch.“ Immer wieder rein und wieder raus. Auch er hat die Zeiten erlebt, wo das Essen „aus Kübeln“ geschöpft wurde und Ärzte und Pfleger noch ein klares Feindbild abgaben. Und erinnert sich an die Zeit unter Professor M., dem strengen Chefarzt: „Wenn da einer schimpfte: ,Du blöder Affe‘, den griffen sich die Pfleger, und es gab die Spritze.“

Er kommt draußen klar. An guten Tagen

Dost kommt draußen allein klar. An seinen guten Tagen. Der Kiez in Berlin-Reinickendorf hat für ihn eine eigene Topographie, die Topographie der Randständigen, der Ver-rückten. Zum seinem Kiez gehört die Wohngemeinschaft, das Tageszentrum, die Ambulanz in der Tagesklinik: „Ich bin mitten drin.“ Unkomfortabel ist das nicht: Die sechs Expatienten aus „Bonnies Ranch“ wohnen in einem Sechszimmerhaus mit Blick ins Grüne. Dost besitzt seinen eigenen Raum, einen eigenen Kühlschrank und sein eigenes Zigarettendepot. Drei Betreuer kümmern sich regelmäßig um die Mitglieder der Wohngemeinschaft.

Haus, Garten und die Helfer nützen ihm jedoch nichts, wenn die Gespenster wieder kommen. „Geisteskrank“ ruft Dost aus, verdreht die Augen, fuchtelt mit den Armen und zaubert ein spitzbübisches Grinsen in seine blauen Augen, „die Ärzte haben mir 15 verschiedene Diagnosen gegeben. Schizophrenie!“ Im Moment kann er sich darüber lustig machen.

An schlechten Tagen kann er das nicht.

Dann kommen die „Nebelgespenster“, und die Wirklichkeit wird zum Traum. „Das ist wie mit den Wolken. Du schaust in die Wolken und entdeckst plötzlich Gesichter, Figuren. Wenn man sich da reinsteigert, kann das beängstigend sein“, erklärt er. Die Geister sprechen mit ihm. Die guten Geister sind nett. „Mit denen kann ich mich unterhalten.“ Die schlechten reißen Dosts Seele in Stücke. „Die schimpfen mit mir, flüstern: Was hast du wieder angestellt?“

Heute sind nur gute Geister unterwegs. Hier im Tageszentrum Waidmannslust streicht nur der Herbstwind durch die hohen Linden. Dost sitzt im Garten, streichelt den Haushund Bessi und plaudert mit der Leiterin Beate. Ein wenig abseits schleicht Herr S. aus der Wohngemeinschaft grummelnd auf und ab. Eine grauhaarige Besucherin hat ihre Krücken abgestellt und spielt Sechsundsechzig mit einer Betreuerin. Gleich gibt es Hähnchen zum Mittagessen – für drei Mark pro Person. Das Tageszentrum ist ein Asyl der vielgeplagten Seelen, ein Ort für Menschen, die kein Kneipenwirt sonst haben will.

Dost packt seine Fotosammlung auf den Gartentisch. 20 abgegriffene Bilder, die er mit sich herumträgt wie ein Heiligtum. Schwarz- weißfotos von den Eltern und seiner Schwester aus Dresden. Ein Jugendfoto von ihm selbst im Weichzeichner: ein hübsches Gesicht mit Elvistolle und verträumtem Blick.

Und dann die Militärfotos. Zwei Jahre lang hat er bei Marseille in der Fremdenlegion gedient. Dort gab man ihm einen neuen Namen: Gerard. „Die sagten mir: Psychiatrie? Du bist doch nicht verrückt!“ Das Militär, das ist sein Halt, sein Trost: „Ich komme aus einer Offiziersfamilie.“

Das Militär, Uniformen und Dienstgrade waren auch damals mit der Baronin von H. auf der Station 19 sein unerschöpfliches Gesprächsthema: „Die hatte Ahnung von Uniformen, das war eine vornehme alte Dame.“ Einmal wagten sich die beiden gemeinsam ins Café Kranzler am Ku'damm. Die Baronin sprach sehr laut, weil sie schwerhörig war. „Ich sagte zu ihr: Frau Baronin, etwas leiser bitte. Die Leute gucken schon. Da fiel ihr plötzlich das Gebiß aus dem Mund.“ Die Gäste schauten indigniert, als die alte Dame die Zähne ungerührt wieder hineinschob. „Das war 'ne spaßige Situation“, grinst er. Zum Leben gehört ein bißchen Komik.

An schlechten Tagen eine Extraration Haldol

Der Humor verläßt Günter Dost an seinen dunklen Tagen. Dann reißt die Welt auf, und die Geister kriechen flüsternd aus den Rissen. Dann zieht sich Dost seine Jacke über das Sweatshirt mit dem Aufdruck „pioneer“ und stapft die sieben Minuten Fußweg zur Ambulanz in der Tagesklinik, sein letzter Halt. Dort kriegen die Patienten regelmäßig Psychopharmaka, als Spritzen, Tropfen, Pillen. An schlechten Tagen bekommt Dost eine Extraration des Psychopharmakums „Haldol“ in die Hand gedrückt.

Am Abend eines solchen Tages zittert er wie ein Parkinson-Kranker, geht schwankend und spricht nur noch schleppend. Das sind die Nebenwirkungen der Teufelsaustreibung. „Ich bin behindert“, klagt er dann. Sein Kiez mit der Wohngemeinschaft und dem Tageszentrum wird ihm „zur Glasglocke“. Sein einziger Trost ist die Zeit: Auch diese Tage gehen vorbei.

* Alle Namen von Patienten in der Karl-Bonhoeffer-Klinik von der Redaktion geändert

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen