■ Frauen, die Kinder sexuell mißbrauchen, bleiben oft unbehelligt – weil viele nur Männern solche verletzenden Übergriffe zutrauen. Ein internationaler Kongreß unter dem Motto „Wege aus dem Labyrinth“ begann mit diesem Vorurteil aufzuräumen Aus Berlin Constanze von Bullion
: „Ich hatte das Gefühl, dieses Kind ist mein Besitz“

Meist sind es Mütter, manchmal Tanten, gelegentlich Babysitter: Frauen, die ihre Schützlinge sexuell quälen, haben oft kein Unrechtsbewußtsein. Die Tricks, mit

denen die Täterinnen sich aus der Verantwortung stehlen wollen, sind vielfältig. Therapeutinnen wissen:

Ihre Bemühungen können scheitern, wenn die Frauen nicht aus ihren alten Verhaltensmustern aussteigen.

Wer in Großbritannien rückfällig wird, muß in den Knast.

Die Stimme verrät alles. Wie ein Rinnsal tropft sie in das Mikrophon des Kassettenrecorders. Wird schwächer, versickert dann ganz – und schießt plötzlich wieder los wie ein harter Wasserstrahl. Janet Robinson erzählt es nicht zum erstenmal. Die junge Frau mit dem schnörkellosen, nordenglischen Tonfall kennt die Fragen der Therapeutin auf der anderen Seite des Recorders. „Warum hast du deinen Sohn mibraucht?“ fragt die leise, aber unerbittlich. „Weil ich dachte, ich hätte ein Recht darauf“, antwortet sie. Es klingt wie eine vorsichtige Rechtfertigung. „Ich hatte das Gefühl, dieses Kind ist mein Besitz.“

Was Janet Robinson ihrem Sohn angetan hat, braucht sie nicht mehr zu erzählen. Ihre Betreuerin weiß es. Der sechsjährige Marc weiß es. Sie selbst weiß es auch. Nach jahrelanger Therapie hat die Mutter von drei Kindern begriffen, daß ihr Kind fast zerbrochen wäre in ihren Händen. Hat gelernt, daß Sex, Gewalt und Liebe verschiedene Dinge sind. Und daß sie es nie wieder tun darf. Sonst muß sie in den Knast.

Prävention statt Bestrafung ist das Motto, das Janets Therapeutin Hilary Eldridge durch Gefängnisse und Kliniken begleitet. Seit 21 Jahren betreut die Britin Sexualstraftäter. Inzwischen hat sie sich auf Frauen spezialisiert, die Kinder mißbrauchen. Wie die Muster weiblicher Übergriffe aufgeschlüsselt werden, die Opfer geschützt und Rückfälle vermieden werden können, erläuterte Eldridge vergangene Woche in Berlin. Bei einem Internationalen Kongreß zu sexuellem Mißbrauch wurde erstmals ausführlich über Täterinnen gesprochen.

Das Terrain ist unwegsam. Frauen, die Kinder angreifen, die verletzen, vergewaltigen oder verstümmeln, passen nicht zum Klischee der fürsorglichen Mutter. Noch weniger fügen sie sich ins feministische Bild von der Frau als Opfer männlicher Gewalt. Mißbrauch ist nicht nur Männersache, das belegen vor allem Forscherinnen aus angelsächsischen Ländern.

Von 8.663 Kindern und Jugendlichen, die sich innerhalb eines Jahres beim britischen Notruf „ChildLine“ wegen Mißbrauchs meldeten, benannten 780 eine Frau als Täterin, immerhin neun Prozent. Meist sind es Mütter, die sich an ihren Kindern vergreifen, manchmal Tanten oder Babysitter. Und nur hinter einigen von ihnen steht ein Mann, der die Regie führt.

Was bei „ChildLine“ durchs Telefon gewispert wird, sind oft nur versteckte Andeutungen. Manche Kinder erzählen, sie seien von einem Mann mißbraucht worden, weil das glaubwürdiger klingt. Übergriffe von Frauen werden von Außenstehenden kaum ernst genommen. Für die Opfer kann das verheerend sein. „Überlebende“ nennen sich die teilweise schwerverletzten Opfer des Mißbrauchs.

Ihre Erinnerungen hat die Londoner Kinderpsychologin Michele Elliott in ihrem jüngsten Sammelband „Frauen als Täterinnen“ dokumentiert. Das Panorama, das sich hier eröffnet, ist ein bizarres Kaleidoskop der Grausamkeiten.

Eleanor Stevens pinkelte sich als Kind absichtlich voll, damit ihre Mutter aufhörte, zwischen ihren Beinen herumzufummeln. Weil Gillian Balas ihre kleine Schwester geschlagen hatte, rammte die Mutter ihr den Stiel einer Haarbürste in die Vagina. Lynne Maries Mutter schnippelte mit der Schere an den Schamlippen ihrer fünfjährigen Tochter herum und steckte ihr brennende Zigaretten in den Unterleib. Richard Carter wurde von seiner Tante gezwungen, sie oral zu befriedigen, bis er sich erbrach. Paul Thorrson wurde mit einem Keilriemen verprügelt, als er nicht mehr mit seiner Adoptivmutter schlafen wollte. Alan Long schließlich demütigten die Freundinnen seiner Tante. Heute bezeichnet er sich Frauen gegenüber als „sexuell aggressiv“.

Daß Mißbrauch sich durch Generationen fortsetzen kann, ist bekannt. Nahezu alle Frauen – so die britischen Studien –, die ohne männliche Anleitung Kinder mißhandelt haben, wurden selbst mißbraucht. Bei männlichen Tätern ist dies oft, aber nicht durchgängig der Fall.

Wer selbst Opfer war, geht je nach Geschlecht unterschiedlich mit den Erlebnissen um. Weiblicher Mißbrauch kann bei Mädchen wie Jungen das Selbstwertgefühl vernichten und lebenslangen Selbsthaß provozieren. Doch in den Untersuchungen gab es auch einzelne Jungs, die erzählten, sie hätten den Sex mit Frauen aus ihrer Verwandtschaft als unbeschwertes Vergnügen empfunden. Ein schottischer Rentner etwa berichtet von „leidenschaftlichem Geschlechtsverkehr“ mit seiner älteren Schwester. Noch als beide verheiratet waren, schlugen sie sich bei Familienfeten in die Büsche und genossen ihr verbotenes Laster.

Keine Frage: Nicht jeder Inzest wird erzwungen. Und nicht jede mütterliche Berührung eines Kinderpimmels ist eine sexuelle Belästigung. Die Grenzen zwischen Spiel und Ernst, zwischen zärtlicher Pflege und unangenehmem Getätschel sind fließend. In Familien allerdings, wo Mütterlichkeit, Sexualität und Gewalt seit Generationen ineinander verwoben sind, kann jedes Unrechtsbewußtsein für Mißbrauch fehlen. Und jedes Mitgefühl für die Opfer.

Janet Robinson, die ihre Erfahrungen bei Hilary Eldridge aufs Band spricht, hat lange nicht begriffen, was man ihr vorwarf. „Was ich getan habe, war ganz normal und selbstverständlich“, erinnert sie sich. „Ich habe gedacht, es ist okay für Marc. Als die Leute vom Jugendamt sagten, daß ich mein Kind sexuell mißbrauche, war ich total schockiert.“ Diese Frau lügt nicht. Inzwischen hat sie erkannt, daß sie ihre Kinder verwahrlosen ließ. Daß sie pornographische Fotos von ihrem Sohn gemacht hat; daß sie ihn regelmäßig mit sexuellen Attacken gequält hat.

Es war normal für Janet Robinson, die Wut an ihrem Sohn auszulassen, weil das schon ihr Großvater und ihre Mutter mit ihr getan hatten. Janet war minderjährig und Single, als Marc auf die Welt kam. Die Großmutter kümmerte sich – und vergriff sich ebenfalls an dem Säugling. Wann Janet selbst zulangte, kann sie inzwischen sehr genau erklären. „Wenn ich wütend war und deprimiert, habe ich mich richtig reingesteigert. Den ganzen Tag konnte ich den Zorn festhalten. Und am Abend bin ich explodiert.“ Ihr Sohn, sagt sie, sei der einzige gewesen, der ihr „die Wut nehmen“ konnte.

Das eigene Verhaltensmuster zu durchschauen ist ein großer Schritt. Aber es ist nur der erste. „Grooming“ (englisch für: pflegen, auf eine Rolle vorbereiten) nennen Experten das ausgetüftelte System des Selbstbetrugs, mit dem Täterinnen und Täter den Mißbrauch rechtfertigen. Dazu gehört, die eigene Verantwortung zu leugnen, ein Opfer durch Manipulation und Machtspielchen gefügig zu machen. Und den Lebensalltag so zu organisieren, daß die Übergriffe sich wie von selbst ergeben – beim Baden oder Schlafengehen etwa. Werden solche Gewohnheiten nicht durchbrochen, ändert sich nichts – trotz Behandlung.

Erfahrene Therapeutinnen wie Hilary Eldridge kennen die Gefahr, nur an der Spitze des Eisberges zu laborieren. Welche Therapeutin kann sich schon darauf verlassen, daß ihr eine Klientin rückhaltlos anvertraut, was sich bei ihr zu Hause abspielt – während in der Therapie Schritt für Schritt die Biographie aufgearbeitet wird.

Sitzen die Täterinnen während der Therapie schon im Knast, sind die Opfer zumindest sicher. Lebt die Familie aber noch zusammen, ist das Rückfallrisiko groß. Wegsperren hilft da wenig. Viele von Eldridges Klientinnen sind alleinerziehende Mütter. Spricht man ihnen das Sorgerecht ab, landen die Kinder womöglich im Heim.

Das britische Programm „Stop it now“ setzt auf Vorbeugung. Damit die Patientinnen Vertrauen fassen, macht die Therapeutin ihnen klar, daß ein Kind nur im äußersten Notfall aus der Familie genommen wird. Aber: Sie braucht auch ein Druckmittel. Bei „Stop it now“ arbeiten Psychologen und Strafverfolger zusammen. Nur wer zu konsequenter Behandlung bereit ist, wird auf Bewährung entlassen.

Erfahren die Psychologen im Knast von neuen Straftaten, können Geständnisse aus der Therapie an die Justiz weitergeleitet werden. Nur so kann Hilary Eldridge vermeiden, daß ihr Angebot als Fluchtweg aus dem Knast benutzt wird. Auch wer noch kein Verfahren am Hals hat, muß die Behandlung ernst nehmen und ist gezwungen, aus dem Mißbrauch auszusteigen. Sonst droht die Vorladung.

Das klingt gut. Doch nicht jeder Therapeutin gelingt es, das Risiko eines heimlichen Rückfalls richtig einzuschätzen. Nicht jede Täterin steht den Entzug durch. Nicht jedes Kind kann warten, bis seine Peinigerin sich durch uralte Konflikte durchgekämpft hat.

Marc, der Sohn von Janet Robinson, wurde parallel zu seiner Mutter therapiert. Jetzt will er selbst raus aus der Mühle. Langsam zeigt auch Janet Mitgefühl für die Verletzungen, die sie ihrem Sohn zufügte. Sie hat eingewilligt, Marc in eine Pflegefamilie zu geben. Vermutlich wird sie ihn nie wiedersehen.

Die Arbeit ist damit noch lange nicht erledigt. Janet Robinson hat zwei Töchter, die nicht mißbraucht wurden. Sie leben vorübergehend in Pflegefamilien und wollen lieber heute als morgen zurück nach Hause. Damit das gelingt, muß ihre Mutter einen kompletten Neuanfang zustande bringen. Sie muß lernen, ihr zerstörtes Selbstbewußtsein aufzubauen. Muß einen Alltag fern von ihren eigenen Eltern meistern und braucht vor allem starke Freunde. Am besten welche, die ihre schwächste Seite kennen.

Die Namen aller Betroffenen wurden geändert