Hat uns Che noch was zu sagen?

Dreißig Jahre nach Che Guevaras Tod am 9. Oktober, erscheinen zwei große Biographien, die sein Leben, seinen bewaffneten Kampf und seine Faszination bis heute vollkommen unterschiedlich beschreiben und bewerten  ■ Von Leopold Federmair und Alejandra Rogel

Man müsse die Geschichte, um sie zu schreiben, gegen den Strich bürsten, lautet eine berühmte Maxime Walter Benjamins.

Dieser Tage, 30 Jahre nach dem Tod Che Guevaras am 9. Oktober im Urwald von Bolivien, erscheinen zwei große Biographien über den argentinisch-kubanischen Revolutionär, eine der Symbolfiguren der Zeit des Kalten Krieges. Der mexikanische Autor Paco Ignacio Taibo II sagt in der Vorbemerkung zu seiner Che- Darstellung, er wolle erreichen, „daß das Buch wie eine Geschichte ,von damals‘ gelesen werden kann, denn nur so ist sie verständlich. Man kann Geschichte nicht von den Folgen zu den Ursprüngen hin erzählen, das verfälscht die Perspektive.“

Sein Vorhaben ist deshalb der Benjaminschen Marschrichtung entgegengesetzt. Taibos Bezug zur Geschichte ist der eines Chronisten, der dem Lauf der Ereignisse getreu zu folgen versucht (siehe Interview mit Taibo II in taz-mag vom 4. Oktober). Der zweite Biograph Jorge Castañeda, auch er Mexikaner, aber kein Erzähler, sondern Politologe und Meinungsjournalist, gibt zwar keine geschichtsphilosophischen Absichtserklärungen, es ist aber klar, daß er sich dem Einfluß gegenwärtiger politischer Erfahrungen auf seine Gestaltung der Che-Geschichte von vorneherein nicht verschließt.

Castañeda schreibt: „Che Guevaras Ideen, sein Leben und Werk, seine Vorbildhaftigkeit, gehören der Vergangenheit an. Daher werden sie nie wieder aktuell sein.“ Man könnte diese Haltung als negative Aktualisierung bezeichnen, insofern sie das Vergangene von der Gegenwart abkappt, weil letztere für Elemente des ersteren nicht mehr empfänglich sei. Die Lektüre zeigt, daß hinter Castañedas Dekonstruktion der mythischen Figur des Guerilla-Kommandanten ein Pragmatismus steht, in dessen Licht Che Guevara als „Fundamentalist“ erscheinen muß.

Dieser Pragmatismus kennzeichnet heute die neue Linke mehrerer lateinamerikanischer Länder, die Wirtschaftsliberalismus mit sozialem Gedankengut zu verbinden sucht. Der kontinentale – oder gar universale – Endkampf gegen den Imperialismus, wie ihn Che anstrebte, kommt für sie nicht in Frage. In Castañedas biographischem Interpretationsschema, das eine Erklärung für den gesamten Lebenslauf Ches und dessen Bedeutung für die Epoche bieten soll, besagt einer von drei Punkten, daß Che Widersprüche nicht ertragen konnte. Der Pragmatismus leistet genau dies, er versöhnt, was versöhnt werden kann, und sichert im Streit des Unversöhnlichen die Koexistenz beider Seiten.

Vergleicht man die beiden Biographien, fällt auf, daß Taibo mit Vorliebe und oft sehr ausführlich Quellen zitiert, in denen die Handelnden zu Wort kommen, besonders die Tagebücher Ches und seiner Kampfgefährten, sowie Interviews, die Taibo in vielen Fällen selbst geführt hat (hochinteressant etwa der Blickwinkel ehemaliger Soldaten der Rebellenarmee aus dem Kongo, denen Che „internationalistische Hilfe“ leistete).

So schreibt sich die Geschichte gleichsam aus der Mitte des Geschehens, sie bietet dem Leser die Möglichkeit zu Einfühlung und Identifikation, ohne daß Kritik dadurch gänzlich ausgeschlossen würde.

Castañeda dagegen greift gern auf die Aussagen von Beobachtern zurück, von Angehörigen ausländischer Botschaften in Kuba oder von CIA-Strategen. Hier wird die Geschichte zu einem guten Teil von außen oder von oben geschrieben, was manchmal einen guten Überblick ermöglicht, aber das Verständnis für konkrete Situationen, Zwänge, Nöte. Leistungen weniger fördert.

Taibo ist am Darlegen von Fakten und Begebenheiten interessiert, auch wenn es sich manchmal um Kleinigkeiten oder Wiederholungen handelt. Er kommentiert äußerst sparsam, obwohl auch er nicht ohne einen Rahmen für seine Sicht auf die Dinge auskommen kann.

Castañeda gefällt sich im Beibringen und Abwägen von Meinungen, Hypothesen, Gerüchten, Versionen. Innenpolitische Querelen und das internationale Kräftespiel ziehen ihn mehr an als die Bewährung von Individuen in bestimmten Lebenszusammenhängen, die sie selbst beeinflussen oder von denen sie beeinflußt werden. Che erscheint bei Castañeda als idealistischer Abenteurer, der zwangsläufig scheitern mußte, bei Taibo als sozial engagierter Arzt und (später) als Agrarkommunist, der mit den Bauern besser zurechtkommt als mit den Bürokraten.

Die drei Punkte von Castañedas biographischem Schema sind, neben der erwähnten Ambivalenzverweigerung Guevaras, die Faszination für das Fremde, Andere, Exotische und drittens Ches Fixierung auf die eigene Tragödie, die ihn immer wieder dazu treibt, die Gefahr und den Tod herauszufordern. Diese drei Merkmale ortet Castañeda in allen Lebensabschnitten seines Studienobjekts, wobei oft nicht einzusehen ist, welche Erklärungsleistung damit erbracht erden soll. Abgesehen davon, daß die theoretische Weihe, die das Schema der biographischen Studie geben soll, gering ist, widersprechen einander auch die beiden ersten Punkte. Es ist schwer einzusehen, wie jemand einerseits allergisch gegen Widersprüche und andererseits vom Fremden fasziniert sein soll. Castañeda zufolge repräsentiert Che auch in dieser Hinsicht seine Zeit: „Im Denken und Fühlen der protestierenden Studenten der sechziger Jahre war kaum Platz für Grautöne, Nuancen, Realismus und das Nebeneinander von Gegensätzen.“

Seltsam, daß Castañeda bei seinen Betrachtungen über die Wirkung des Mythos Che immer an die studierende Jugend der US-amerikanischen Universitäten denkt, aber kaum an Lateinamerika, an die Aufstände der siebziger Jahre, an Allende und die Reaktionen der Militärs. Würde der Autor weniger an psychologisierenden Schemata hängen, könnte er die Militanz der Zeit des Kalten Krieges, die Frontstellung, die ja keine Erfindung der Studenten war, und den Automatismus der Linken, Widersprüche als notwenig „aufzuhebende“ zu denken, wahrscheinlich zwangloser in einem signifikanten Zusammenhang bringen können.

Für Taibo stellt sich dieses Problem nicht. Da er dem Lauf der Geschichte samt seinen Verästelungen treu zu folgen gedenkt, notiert er die Ereignisse auch dann, wenn sie in kein vorgefaßtes Schema passen. Als Erzähler gelingt es ihm, Stimmen hörbar zu machen, vor allem die Stimme Ches, aber auch vieler anderer Beteiligter, in manchen Abschnitten erinnert sein Buch an die Collageverfahren der mexikanischen Dokumentarliteratur. Taibo hat keine akademischen Bedenken, seine Quellen regelrecht auszuschlachten, für einen Literaten ist das ganz legitim. Wenn die Gelegenheit, das Material dazu fehlt, bedauert er: „Es würde dem Historiker gefallen, sich ein weiteres Mal auf die Stimme des Che zu berufen. Man kann diesem erzählerischen Ton dieser schelmischen Aufrichtigkeit, diesem bissigen Humor nicht entkommen.“

Taibo unterschlägt nicht die großen politischen Zusammenhänge, er unterläßt aber jede weitschweifige Erörterung von Hypothesen und Beweggründen. Mehr als Castañeda streicht er die Rolle der USA und des CIA hervor, die offenen und verdeckten Invasionen auf dem ganzen Kontinent, die ständigen Sabotageaktionen in Kuba, die Wirtschaftsblockade gegen ein Land, das auf Exporte und Importe angewiesen ist. Das Resümee kann der Leser ziehen: Die USA haben Kuba den Sowjets in die Arme getrieben.

Natürlich schaffen die beiden Biographien nicht zwei gänzlich verschiedene Bilder von einem Menschen. Durch alle Interpretationen hindurch ist Che der seit Kindheit von Asthma geplagte, zur Selbstüberwindung fähige Mann, der Adrenalin gleichsam (und buchstäblich) aus existenziellen Gründen benötigt. Er ist der Arzt, der Mitleid mit den Armen und Kranken empfindet (auf seiner ersten lateinamerikanischen Reise arbeitet er eine Zeitlang in einer Lepra-Station); Che ist unbequem für Bürokraten und Opportunisten, streng zu sich selbst, als Vorbild geachtet. Er wandelt sich vom „glühenden Verfechter“ des Ostblock-Sozialismus zum Kritiker des sowjetischen Systems. Als Regierender im nachrevolutionären Kuba begeht er in seinem Übereifer zahlreiche Fehler. Er ist felsenfest davon überzeugt, eine Mission zu haben – die von Taibo ernst genommen, von Castañeda als Symptom eines kranken Zeitgeistes betrachtet wird. Der Erfolg Ches und seiner Gefährten während des kubanischen Befreiungskampfes und der ersten Phase der Revolution ist auf das Zusammentreffen mehrerer günstiger Umstände zurückzuführen, nicht zuletzt auf das Auftreten von außergewöhnlichen Akteuren wie Fidel Castro und Guevara selbst.

Jorge G. Castañeda: „Che Guevara, Biografie“. Aus dem Englischen und Spanischen von Christiane Barckhausen, Sven Dörper, Ursula Gräfe und Udo Rennert. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1997, 640 Seiten, mit Abbildungen, 60 DM

Paco Ignacio Taibo II: „Che. Die Biografie des Ernesto Guevara“. Aus dem Spanischen von Horst Rosenberger. Edition Nautilus, Hamburg 1997, 740 Seiten, mit Abbildungen, 68 DM