Vereint in Betten hoch auf See

Was den Journalisten das „nosing around“, ist einigen Dichtern das „cruising up and down“ – zum drittenmal fuhr der „Deutsch-Polnische Poetendampfer“ über die Oder  ■ Von Helmut Höge

Im September kreuzte zum drittenmal ein „D.-P. Poetendampfer“ auf der Oder: mit etwa 40 Dichtern, Journalisten und Politikern beiderlei Geschlechts und Nationalität an Bord. „D.-P.“ steht für „deutsch-polnisch“, nach dem letzten Krieg stand es für „displaced person“. Dieser Status gilt für viele Dichter noch immer – insbesondere für die polnischen.

Nunmehr beginnt sich jedoch die erste Generation – vom Ausland aus – zu artikulieren, die nicht mehr aus dem politischen Untergrund ins Exil entwich, sondern wegen der sozialen und ökonomischen Verhältnisse. Der Jungdichter Krzysztof Zaluski zum Beispiel lebt bereits seit etlichen Jahren am Bodensee, nach dem er auch sein erstes Erzähl-„Tryptichon“ benannte, das ihn in Polen auf Anhieb berühmt machte. Er hat nicht genug Geld, um sich einen Sprachkursus in der nächsten (schwäbischen) Volkshochschule leisten zu können, dennoch schafft er es, eine polnische Literaturzeitschrift – namens Bundesstraße 1 (B1) – herauszugeben.

Auf dem „Poetendampfer“, der diesmal wegen der Flutkatastrophe nur Kurzstrecken, und das auch nur mit einem kleinen Patrouillenboot des Stettiner Wasserwirtschaftsamtes, abfuhr, wurde eine Fusion der Zeitschrift B1 mit der deutsch-polnischen Jahresanthologie „WIR“ verabredet. Die „WIR“ wird von einigen in Berlin lebenden polnischen Schriftstellerinnen herausgegeben.

In Warschau erzählten mir neulich zwei Englisch sprechende Gymnasiasten, daß sie nach dem Abitur sofort auswandern wollen. Sie begründeten das mit der zunehmenden Zahl von „Men in Sportswear“. Männer in Sportbekleidung gibt es jedoch überall auf der Welt – im Zusammenhang der postkommunistischen Globalisierung und dem Verschwinden echter Männerarbeitsplätze wachsen sie sich langsam, aber sicher zu wahren Heerscharen aus. Wenn irgendwo in Amerika, Europa oder Asien heute ein Handarbeiter-Delikt begangen wird, kann man sicher sein, daß die Täter mindestens Turnschuhe trugen. Wenn die Billigkopien mit einem bereits existierenden Logo auf dem Markt kommen, machen sich die Newcomer strafbar. In den deutschen Zoll- containern an der Oder warnen derzeit Plakate vor dem Kauf von Sportjacken der Marke „Chiemsee“: „Sie brauchen zwei Wochen, der Zoll erkennt die Fälschung sofort.“ Daneben hängt noch ein weiterer aufschlußreicher Hinweis: „Dieser Betrieb bildet Jugendliche aus. Bitte haben Sie dafür Verständnis, daß sie noch nicht alle Amtshandlungen alleine ausführen dürfen!“

So hatte sich die deutsch-polnische Verständigungsintelligenz die „Bekämpfung“ von Jugendarbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel eigentlich nicht vorgestellt, denn nichts behindert die postmodern-geforderte Quivive-Mobilität so sehr wie diese extrem antimodernen Personenkontrollen an den absurden Oder-Grenzübergängen, die man inzwischen auch noch stolz als „die sichersten der Welt“ bezeichnet. Oben in Swinemünde kämpfen die Bürgermeister der deutschen Nachbargemeinden Heringsdorf und Ahlbeck sogar politisch gegen den Abbau der Grenzschikanen. Und unten in Guben scheiterte unlängst eine deutsch-polnische Kulturveranstaltung auf der Gubiner Neiße-Insel, zu der man als Eintritt ebenso viele Sloty wie Mark verlangen wollte: Die Gubener Stadtverwaltung fand keine einzige deutsche Bank, die ihr hernach das polnische Geld ordentlich verbuchen wollte. Auf polnischer Seite kann man dagegen nahezu rund um die Uhr fremde Währungen eintauschen und mit Mark sogar fast überall zahlen.

Die wahren Abgründe deutscher Eigenart, mit der man sich hier vor dem Anderen schützt, erkennt man jedoch erst im Rückblick – „von drüben nach hüben“ quasi: die beiden Busfahrer, die für den Landtransport der Mannschaft des Poetendampfers sorgten, das Personal und die Besitzerin der Segler-Pension „Cypel Pod Lipa“ in Moryn, die Stadtbilderklärerin von Chojna, eine dichtende Sportlehrerin, die Chefin des Stettiner Wasserwirtschaftsamtes, der Verwalter des Strandbades am Moryner See, Herr Dudek... Sie alle gehören nach ihrem Einsatz wie selbstverständlich mit zur Poetentruppe, erwerben deren Veröffentlichungen und bleiben zum Essen, übernachten gar im Hauptquartier der deutsch-polnischen Verständigung, wo einfach noch ein Bett mehr für sie aufgestellt wird. Seine schönsten Blüten treibt dieser fast völlig fehlende Hang zur Distinktion bei den Lesungen in polnischen Kultureinrichtungen. Sie beginnen stets mit einigen hochoffiziellen Reden von Politikern und Kulturvermittlern, die dem Ort und den Dichtern schmeicheln. Darauf folgt eine kleine musikalische Einlage und gegebenenfalls, wie etwa in Moryn, der Auftritt eines siebenköpfigen Frauenchors. Hier stimmen bereits die ersten polnischen Schriftstellerinnen ein – so sie gesangeskundig genug sind.

Bei späteren Auftritten des Frauenchors machen auch einige mutige Männer (wie „Country- Dudek“) mit, und immer mehr Leute tanzen dazu. Währenddessen geht langsam das Bier zur Neige. Ein Jungdichter, der sich in Hamburg auf dem Bau seinen Rücken kaputtgemacht hat, dessen Frau jedoch gerade einen gutbezahlten Job an einer ostdeutschen Universität bekam, macht sich auf und besorgt alkoholischen Nachschub. Der Chor singt längst erschöpft nur noch im Sitzen, die Stimmung wird aber immer ausgelassener. Eine Sängerin wagt den Übergang von alten ukrainischen Volksliedern zu Adaptionen neuerer Madonna-Songs. Ein Mitarbeiter der Neuen Gesellschaft für Literatur erkundigt sich bei der Pensionschefin, was es kostet, wenn er noch einmal, diesmal mit Familie, wiederkomme (40 Mark pro Doppelzimmer).

In den kontemporär-existentialistischen Kellerbars der Kulturhäuser kommen auch die exzessiv- expressiven Gedichte der polnischen Jungdichterinnen, die jedes Wort prononciert ausprägen, gut zur Geltung. Namentlich erwähnt seien die Philologin Anna Janka, geboren 1957, sowie die Philosophin und Pianistin Ewa Sonnenberg, geboren 1967: „Eine neue Hoffnung Polens“, wie mir einer ihrer männlichen Kollegen versicherte. Die Kulturhausparty wird nach Mitternacht im Billardsaal der Segler-Pension forgesetzt – mit Bandoneon-Liedern von Stefan Krawczyk. Auch danach kann man tanzen, auf dem Tisch sogar. Am nächsten Morgen wirkt einzig der derzeit in Berlin exilierte serbokroatische Dichter Stevan Tontic etwas angeschlagen: „Ich bin eigentlich Weintrinker!“ entschuldigt er sich.

Die Dampferorganisatorinnen bzw. -betreuerinnen – Monika, Anna, Ewa und Maria: vier in Berlin lebende Deutschdolmetscherinnen – haben für diesen Tag eine Lesung nebst Diskussion in Stettin organisiert. Zwischendurch soll dort auch noch ein „Künstlerbuch“ auf amerikanisch versteigert werden, für das bereits Tage zuvor nahezu jeder Teilnehmer eine Seite zusammenstellte. Der Erlös ist für eine bei der Flutkatastrophe zerstörte Bibliothek gedacht. Für etwa 700 Mark wird das DIN A3 große Unikat schließlich von der Stettiner Bibliothek erworben, wobei der Auktionator etwas nachhilft. Der dabei ausgebootete polnische Dichter „Kuba“ macht jedoch gute Miene zum bösen Spiel.

Auf der von Klaus Schlesinger gestalteten Seite des „Künstlerbuches“ geht es um die Bearbeitung der „Flutkatastrophe“ durch die Massenmedien. Sie beeinflussen die Öffentlichkeit in Deutschland weit mehr als in Polen, wo diese Aufgabe noch immer eher von einsamen Dichtern und Schriftstellern wahrgenommen wird. Der im Oderbruch lebende Schlesinger notierte sich von einem TV-Kommentator, „live“ auf dem überfluteten Deich, unter anderem die neue Variante einer alten Kaiser- Wilhelm-Sentenz: „Jetzt gibt es keine Ossis und Wessis mehr, sondern nur noch Mitmenschen!“ Und ferner, daß man aufgrund der danach einsetzenden Spendenflut der „inneren Einheit“ ein gewaltiges Stück nähergekommen sei.

Dieser Begriff geht Schlesinger zufolge auf Heinrich Heine zurück. Im „Wintermärchen“ berichtete der Dichter, daß die deutschen Grenzorgane ihn – aus dem Westen kommend – tüchtig gefilzt hatten (das taten sie übrigens mit uns am Schluß – aus dem Osten wieder nach Deutschland einreisend – ebenfalls), worauf ein Mitreisender ihm erklärte: Während die äußere Einheit durch den preußischen Zollverein garantiert werde, würde die innere – geistige – durch die Zensur gebildet: sie erst stifte eine „Einheit im Denken und Sinnen“.

So oder so ähnlich „bearbeitete“ das 1994 unter anderem von Erich Loest mitangeschobene jährliche Subventionsereignis „deutsch-polnischer Poetenpott“ (auch wenn es kein Narrenschiff sein kann, weil Dichter stets dem Sinn verpflichtet bleiben; und auch kein Proletendampfer, weil es eher den Stromtourismus kultiviert als Fabriken, Agrarbetriebe oder Grenzmärkte anzusteuern) dann doch immer wieder die Geschichte bis in ihre tagesaktuellsten Ausprägungen hinein. Das ist übrigens auch der jungen polnischen Literatur, sofern sie sich von Deutschland aus artikuliert, eigen, die – wie zum Beispiel Zaluski – den alten (Groß-)Schriftstellern vorwirft, ihre Leser mit dem „deutschen Überfall“ sowie mit „Auschwitz und dem Gulag“ inzwischen nur noch medial erfolgreich zu traktieren.

Neben den derzeitigen deutschen Überheblichkeiten thematisieren die Jungen dagegen auch die neuesten Amerikanismen – bis in die Gesten hinein. Volksbühnen- Intendant Frank Castorf sagte es neulich so: „Der Osten ist ein Stück Asien – in allem. Das ist auch ein Vorteil, weil man nicht alles an sich rankommen läßt, vielleicht auch kräftiger ist, wenn das Ungewohnte auf einen zukommt.“ Von allen Einwanderern haben die polnischen die wenigsten Probleme, sich in Deutschland zurechtzufinden, berichten übereinstimmend kommunale Sozialbehörden. Zwar ist inzwischen auch umgekehrt Polen für die Deutschen zum drittbeliebtesten Auswanderungsland (nach Frankreich und den USA) aufgerückt: 1995 zogen 6.290 Bundesbürger dorthin; dennoch gehen immer noch die meisten diesbezüglichen Initiativen von Polen aus, und sprechen immer noch unvergleichlich viel mehr Polen Deutsch, als Deutsche das Polnische auch nur verstehen.

Dies gilt auch noch für die nun schon im dritten Jahr zwischen Breslau, Görlitz, Schwedt und Stettin aufkreuzenden Poeten, bei denen es immerhin zur Höflichkeit gehört, daß die Deutschen unter ihnen die polnischen Ortsnamen verwenden, die Polen dagegen die ehemaligen deutschen Ortsnamen. Vielleicht wird man es einmal sogar als einen wahren Glücksfall ansehen, daß die Sowjets einst Polens Grenzen von Osten nach Westen verschoben – und so gewissermaßen eine Durcheinanderzone zur neutralisierenden Vermischung schufen. Schon jetzt zählen einige Gemeinden mit Grenzmärkten zu den reichsten in Polen.