■ Nachschlag
: „Nenn mich Verräter!“ — Man diskutierte den Deutschen Herbst

Das große Jubiläumsjahr des Deutschen Herbstes. Es geht um Einordnung in die Geschichte, Bewertung, Kategorisierung – Tätersicht, Opfersicht, die Ursachen, die Folgen. Am Montag abend trafen sich in der LiteraturWERKstatt in Pankow vier Männer, die „damals“, 1977, mehr oder weniger dicht dran waren am Geschehen und heute zurückblicken, mit mehr Abstand oder mit weniger.

Ohne Abstand blickt der Schriftsteller Christian Geissler zurück: „Die Geschichte des bewaffneten Kampfes ist so wenig zu Ende wie die internationalen Klassenkämpfe“, leitet er seine Lesung aus dem Roman „kamalatta“ ein, die er den RAF-Gefangenen widmet. An der anschließenden Diskussion weigert er sich teilzunehmen. Wie auch F.C. Delius, der sich nach der Lesung aus seiner „Trilogie zum Deutschen Herbst“ zwar immerhin mit aufs Podium setzt, dann aber lieber nicht mehr angesprochen werden möchte: Was er meine, könne der Klaus Hartung viel schöner sagen, und ansonsten solle man eben seine Bücher lesen: „Da steht alles drin.“

So daß der Verleger Klaus Wagenbach und der Zeit-Redakteur und Ex-tazler Klaus Hartung – moderiert von taz-Redakteurin Mariam Lau – allein ihre Sicht auf die Dinge ausbreiten können. Für Hartung trägt die RAF die Schuld daran, daß die Linke „Jahre verloren“ habe: „Alles, was 68 auszeichnete, der emphatische Öffentlichkeitsbegriff und die Emanzipation, ging mit der RAF verloren.“ All die Formeln und Phrasen von damals hätten sich nicht bestätigt, und er lobt die „glückliche Entwicklung der Demokratie“ und „die Durchdringung des Staatsapparates durch antiautoritäre Beamte“. Natürlich werden die, die oben sitzen, bald schon aus dem Publikum als „Pack“ und „Verräter, die ihren Frieden mit dem Staat gemacht haben“ angegriffen. Außer Klaus Wagenbach, der von allen Angriffen ausdrücklich ausgenommen wird. Das ist dem Verleger aber gar nicht recht: „Ich möchte, daß du mich zu den Verrätern zählst“, antwortet er einem der Angreifer. „Man kann und soll sich in 20 Jahren verändern. Ganz bestimmt. Auch du wirst das noch erfahren.“

Nach drei zähen Stunden möchte Wagenbach dann gerne noch etwas vorlesen, wird von der Diskussionsleiterin aber abgewehrt („die Luft ist raus“). Also bittet er noch dringend um Fragen, die aber keiner mehr stellen will. Volker Weidermann