Warten auf Gottes Lohn im irdischen Leben

Abu Aschraf, ein 36jähriger ägyptischer Familienvater, hat Arbeit. Trotzdem fehlt es an allen Ecken und Enden. Von der Religion als Lösung, wie sie die Islamisten versprechen, will der gläubige Aschraf jedoch nichts wissen  ■ Aus Kairo Karim El-Gawhary

Alle Jahre wieder durchlebt Abu Aschraf* seinen ganz persönlichen Alptraum. Dann nämlich, wenn die Schulglocken den ersten Schultag einläuten und der Vater von zwei schulpflichtigen Kindern immer noch nicht weiß, wo er das Geld für die Bücher und für neue Klamotten seiner Kinder auftreiben soll.

Als Metallarbeiter in einem staatlichen Elektrobetrieb in Kairo verdient Abu Aschraf gerade einmal 70 Mark im Monat. Und das, obwohl der 36jährige schon seit seinem Kindesalter in der gleichen Fabrik tätig ist. Über 30 Mark für die Schulbücher, noch einmal die gleiche Summe für neue Schuhe und 40 Mark für neue Kleidung, rechnet er zusammen. Obwohl er die ganzen Ferien über in einem mit seinen Nachbarn geformten Sparclub eingezahlt hat, reicht es auch diesmal nicht. Die Raten für die Schultasche seiner Tochter muß er jetzt in den nächsten Monaten abstottern.

Abu Aschraf möchte seinen Kindern eine halbwegs vernünftige Ausbildung garantieren. „Wenn ich abends nach Hause komme und sie verlangen von mir ein neues Schulheft, dann laufe ich los und kaufe zwei.“ Er selber hat nur drei Jahre die Schule besucht und später in einem Abendkurs neben der Arbeit mühevoll erreicht, zu der Hälfte der ägyptischen Bevölkerung zu zählen, die lesen und schreiben kann. Vor allem in seine Tochter Basma, die gerade die zweite Klasse besucht, setzt er große Hoffnungen. „Sie ist viel pfiffiger als meine beiden Söhne. Vielleicht wird sie einmal eine große Ärztin.“

Unterdessen rackert sich Abu Aschraf in seiner Fabrik ab. Er gehört nicht zu jenen schätzungsweise fünf Millionen Ägyptern, die jeden Tag in der Verwaltung öffentlicher Betriebe unmotiviert ihre Tage absitzen, Tee trinken, Zeitung lesen und am Ende ihr bescheidenes Gehalt einstreichen und eigentlich zu der geschätzten Arbeitslosenstatistik von rund 20 Prozent als versteckte Arbeitslose hinzugezählt werden müßten. Der Staat gibt alleine in der Verwaltung 1,5 Milliarden DM unproduktiv aus. Darunter fünf Millionen Mark für Privatgespräche auf staatlichen Telefonen.

Trotz nicht vorhandener Anreize ist Abu Aschraf in seiner Firma als harter Arbeiter bekannt. „Irgendwann werde ich dafür von Gott belohnt werden. Ich bin einfach nicht der Typ, nur herumzusitzen“, erklärt er eigensinnig. Oft wird der erfahrene Metallarbeiter im ganzen Land herumgeschickt. Er läßt seine Familie tageweise allein und versucht, seine Arbeit in irgendeiner kleinen Provinzstadt verantwortungsvoll durchzuführen. Dann sucht er sich mit seinem Tagegeld von umgerechnet einer Mark einen Platz zum Schlafen und etwas zu essen.

Nach Feierabend oder am Wochenende versucht Abu Aschraf, mit Gelegenheitsarbeiten für in Kairo lebende Ausländer das Familienbudget aufzubessern. Dabei erweist er sich als Allround-Genie: Er organisiert Umzüge, putzt Fenster, repariert tropfende Abflußrohre, verdingt sich als Gärtner oder Tischler. Stolz verweist er auf sein bisher ausgefallenstes Schreinerwerk, einen hölzernen Kleiderständer, der mit eingebautem Licht gleichzeitig als Lampenständer dient.

Wie drei Millionen andere Ägypter im Großraum Kairo lebt Abu Aschraf mit seiner Frau und drei Kindern in einem der über hundert ausgewiesenen Slumviertel der Stadt. Über enge, willkürlich gebaute, ungepflasterte, staubige Gassen, von deren Seiten sich die Nachbarn über die Balkone praktisch jeden Morgen die Hände reichen können, erreicht man das Haus im Stadtteil Imbaba, in dem die Familie seit acht Jahren im dritten Stock eine Wohnung gemietet hat. Während der dreijährige Sohn durch unentwegtes Rennen von einem zum anderen Ende der 50-Quadratmeter-Wohnung versucht, einen kleinen Papierdrachen zum Steigen zu bringen, und die Tochter davon unbeeindruckt ihre Hausaufgaben zu Ende bringt, bereitet Ehefrau Fatima den Tee für den Gast. Ein Küche gibt es in der Wohnung nicht. Statt dessen wurden im Eingangskorridor eine Gasflasche und ein kleiner Ofen aufgebaut – versteckt hinter einer kleinen Holzwand. „Wenigstens die Leute an der Eingangstür sollen nicht sehen, wie wir hier improvisieren müssen.“

Die meisten Möbel sind selbstgebaut. Der Deckenventilator wurde auf Raten gekauft, ebenso wie der kleine Schwarzweißfernseher, der, nachdem er endlich abgestottert war, von einem der Kinder beim Spielen demoliert wurde. Die Reparatur erwies sich als zu teuer, und so schleppte Abu Aschraf das gute Stück wieder unverrichteter Dinge nach Hause. Statt acht Programmen gibt es seitdem nur noch zwei, und selbst die nur hinter einer gesprenkelten Nebelwand.

Dort, wo normalerweise seine Gäste Platz nehmen, zeugt eine Bildtapete von Aschrafs alpiner Vorliebe: zwei mal fünf Meter Alpensee. „Das Wasser, der Schnee und das viele Grün beruhigen meine Nerven“, erklärt Aschraf, der ansonsten derartige Exotik nur aus dem Fernsehen kennt. Gegenüber hängen das obligatorische zehn Jahre alte Hochzeitsbild und zwei Fotos des Hausherren aus unverheirateten Tagen im rotweißen Trikot des firmeneigenen Fußballclubs.

Ansonsten ist die Wohnung ein Sammelsurium von allerlei Gegenständen, die Abu Aschraf im Laufe der Jahre bei seinen Gelegenheitsjobs von Ausländern geschenkt bekommen hatte. Das größte Kuriosum: ein alter Tennisschläger, der gleich neben dem Fernseher an die Wand genagelt ist und der dem Gästezimmer wohl einen westlich sportlichen Anschein vermitteln soll.

Imbaba, wo das Domizil der Familie liegt, wurde vor fünf Jahren als Hochburg einer der militanten islamistischen Gruppen Ägyptens bekannt. Über die Moscheen und durch unzählige soziale Dienstleistungen hatten die Islamisten das Viertel mobilisiert. Als selbst die ausländischen Medien begannen, vom islamistischen Staat im Staate zu sprechen, war für die Regierung der Zeitpunkt zum Handeln gekommen. Tausende von Polizisten riegelten den Stadtteil eine Woche lang hermetisch ab und verfuhren nach dem Motto „Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen“. In Großrazzien wurden Hunderte von Einwohnern des Viertels festgenommen.

Abu Aschraf erinnert sich nur ungern an diese Zeit. Er selbst hat mit Politik oder gar der islamistischen Opposition wenig am Hut. An den Slogan, daß der Islam die Lösung sei, hat der praktizierende Muslim noch nie geglaubt. Außer konservativen Moralvorstellungen und ein wenig Wohltätigkeitsarbeit haben die Islamisten für Abu Aschraf und die Seinen wenig zu bieten. Auch die antichristliche Propaganda so mancher radikaler Islamisten ist Abu Aschraf ein Greuel. Am liebsten, erzählt er freimütig, gehe er jedes Jahr mit seinen koptisch-christlichen Freunden auf das Straßenfest zu Ehren des heiligen Sankt Georg.

Nur einmal, da hatte sich Abu Aschrafs täglicher Frust in Aktionismus umgewandelt, als er sich vor wenigen Monaten mit anderen Kollegen zu einem Sitzstreik vor seiner Fabrik zusammengefunden hatte. Die Firma wird derzeit für die bevorstehende Privatisierung vorbereitet. Mehrere ausländische Unternehmen haben unter der Bedingung „der Abspeckung des Betriebes“ Interesse angemeldet. Ein neuer Direktor hatte damit begonnen, die Privilegien der Arbeiter systematisch abzubauen. Als er nun verkündete, daß die Arbeiter in Zukunft nur noch einen Tag Wochenende haben und daß der allmorgendliche Werksbus für die Arbeiter von der Innenstadt zum Betrieb abgeschafft wird, da platzte Abu Aschraf und seinen Kollegen der Kragen. „Das Fahrgeld für den Bus zum anderen Ende der Stadt hätte einen guten Teil meines Einkommens aufgezehrt.“ Die Regierung schickte ein Großaufgebot an Bereitschaftspolizei und überzeugte die Arbeiter nach drei Tagen zur Aufgabe. Streiks sind im Lande strengstens verboten. Doch das Aufbegehren hatte Erfolg: Der Bus fährt wieder, und Aschraf hat auch weiterhin Zeit für Nebenjobs. „Das war zumindest ein kleiner psychologischer Sieg, obwohl wir alle sicher sind, daß die Angelegenheit noch nicht erledigt ist“, sagt Abu Aschraf.

Nachts, wenn der Vater neben seiner kleinen Tochter Basma in der improvisierten Küche auf einer Matratze liegt und nicht sofort einschlafen kann, dann zweifelt er gelegentlich daran, ob ihn Gottes Lohn noch in diesem irdischen Leben erreicht. Dann träumt er davon, dem Kampf ums tägliche Überleben endlich zu entfliehen und wieder in sein kleines Dorf zwei Autostunden südlich von Kairo zurückzukehren. Zwar gibt es auch auf dem Land keine Arbeit, aber wenigstens besitzt seine Familie dort aus alten Tagen noch ein kleines Haus. „Vielleicht können wir ja dann von dem leben, was wir im Garten anpflanzen“, phantasiert er. Nur von einem Busch, auf dem Schulbücher und Schulhefte wachsen, hat Abu Aschraf bisher weder etwas gehört noch einen solchen in seinen Träumen gesehen.

*Name vom Autor geändert