Wer schläft, sündigt nicht

■ Tokioter brauchen eigentlich überhaupt keine Betten: Sie schlafen in der U-Bahn. Nur der Saugnapf an der Fensterscheibe hält sie senkrecht

Wäre ich doch nur nicht so feige! Da bieten sie sich mir in den verdrehtesten Stellungen dar, Gesichter mit Zügen bar jeder Steuerung, doch ich wage es nicht, auf den Auslöser zu drücken. Ich hatte mir sogar schon einen Suchervorsatz gekauft, mit dem man um die Ecke fotografieren kann – es geht nicht, ich bringe es einfach nicht fertig. Ein schlafendes Gesicht ist eine derart geballte Ladung an Unschuld und Urvertrauen, ich kann diese Gesichter nicht fotografisch festhalten.

Schlafende Japaner in der S-Bahn, in der U-Bahn, in den Fernzügen. Umtost vom Rattern der Räder, gepiesackt vom aufgeregten Stakkato der Lautsprecheransagen schließen sich die Augen – manchmal zuckt das eine noch in einem letzten Aufbäumen, wie um sich festzuklammern an der Echtzeit. Doch es hat keine Chance, denn alsbald senkt sich, langsam entspannend, das Lid über die glasig ins Weite starrende Pupille. Nun beginnt der Körper sich vollends der Kontrolle zu entziehen: Der Kopf sinkt zur Seite, ruckt der Schulter des Nachbarn oder der Nachbarin entgegen.

Noch wird dieser Vorgang wie durch eine innere Bremse, ein reflexhaftes Reagieren auf die Veränderung der dynamischen oder akustischen Einbettung gelegentlich unterbrochen, der Kopf schnellt wieder in die Senkrechte zurück. Aber nach kurzer Zeit beginnt er wieder zu sinken, nähert sich mit unerbittlicher Konsequenz der nächstgelegenen Schulter. Manchmal sehe ich eine der menschlichen Schlafgelegenheiten, hellwach, wie zur Salzsäule erstarrt, auf jeder Schulter den Kopf eines Nachbarn, dort endlich in jener stabilen Lage, die erst den süßen Schlaf des Gerechten verheißt. Nie

habe ich beobachtet, daß jemand, aus dem Schlaf hochschreckend, entsetzt aufspringt und zur Tür rennt, eingestehend, daß er verschlafen hat. Irgend eine innere Uhr scheint sie noch rechtzeitig vor der Zielstation von dem Schlafzwang zu befreien. Oder ist es ein kleiner, kugelschreiberförmiger Wecker, der sekundengenau – und japanische Züge sind verdammt pünktlich! – die Gehirnfunktionen wieder anwirft? Die Fähigkeit, auch außerhalb der dafür vorgesehenen Stätten und unter allen erdenklichen Umständen schlafen zu können, ist die Eigenschaft der Japaner, die ich am meisten bewundere.

Sie trainieren es vom Kleinkindalter an, wenn sie – oft bis zum dritten Lebensjahr – auf den Rücken der Mutter gebunden ihren kleinen Kopf auf deren sichernde Schulter sinken lassen. Später, in den Hörsälen der Universitäten sinkt der Kopf auf die Tischplatte: Alma Mater. Und schließlich, auf dem Weg zur Firma, der Übermutter, muß der Mitreisende als Kopfkissen herhalten.

Japaner schlafen überall, wo sich eine auch noch so entfernte Gelegenheit dazu bietet. Was müssen diese Menschen müde sein! Und was treiben sie eigentlich nachts? Dressieren sie ihr Tamagotchi zu virtuosem Tun auf der Geige? Oder brüten sie gedanklich neue Wunderwerke der Technik aus?

Übrigens: Peinlich ist das Schlafen auf des Nachbarn Schulter dem Schläfer schon. Und deshalb hat der Erfindergeist auch bereits ein Mittel dagegen entwickelt: Ein Kopfband, hinten mit einem Saugnapf versehen, der an die Fensterscheibe – die Sitzreihen sind entlang den Außenwänden aufgestellt – gedrückt, den Kopf garantiert in aufrechter Position hält.

Aber die meisten Fahrgäste haben im Berufsverkehr ohnehin kaum eine Chance, einen Sitzplatz zu ergattern. Von hundert können etwa 25 sitzen. Und wer steht, schläft nicht, schon gar nicht mit abgesenktem Kopf. Doch nur wer schläft, sündigt nicht. Oder? Gilt das nicht für Japan? Oskar Buchmann