„Am liebsten immer“

Die neuen Popstars sind so jung wie ihre Fans, brav und überaus moralisch. Im Vorprogramm der Backstreet Boys wurde jetzt der neunjährige Aaron Carter getestet  ■ Von Nicol Ljubic

Seine Mutter drückt ihm ein Stück Kinderschokolade zwischen die Zähne. Sie wischt ihm noch schnell den Mund ab, bevor sein Gesicht groß im Fernsehen ist. Aaron läßt es über sich ergehen, so wie Neunjährige die Fürsorge der Mutter eben hinnehmen: er kneift die Augenlider zusammen.

Es ist nicht leicht, ein Star zu sein, wenn die Mutter in der Nähe ist – auch wenn sie dezent einige Meter entfernt steht. Und wenn Aaron doch mal alleine ist, auf der Bühne, und mit Teddys beworfen wird, wenn sie nicht einfach hingehen und ihn in den Arm nehmen kann, dann steht sie backstage und starrt angespannt auf den Monitor. Aber was kann schon einem Neunjährigen passieren, der 15.000 kreischenden Mädchen mit fast unscheinbarem Lächeln Handküsse zuwirft? Und das im Vorprogramm der allseits geliebten Backstreet Boys?

Das Leben ist ein Kindergeburtstag

Für Aaron Carter ist das Leben derzeit ein großer Kindergeburtstag. Popstar werden, das war sein Wunsch. Und irgendwie mußte es auch so kommen, weil kleinere Brüder meistens das werden wollen, was größere Brüder sind. Und Nick Carter, Aarons großer Bruder, ist Mädchenschwarm bei den Backstreet Boys. Als es anfing, daß er kiloweise Liebesbriefe bekam und Mädchen Atemnot, war Aaron gerade sieben und Kindermodel, so wie sein Bruder früher auch. „Nick ist mein Idol“, sagt Aaron und wirft den Kopf zur Seite, um die blonden Haare aus dem Gesicht zu kriegen – Nick hat die gleiche Frisur.

Millionen anderer Mütter hätten den Wunsch, Popstar zu sein, als Flausen im Kopf abgetan – nicht aber Jane Carter. Als popstarerfahrene Mutter hat sie zusammen mit Johnny Wright, Manager von Boygruppen wie den Backstreet Boys und N'Sync, Aarons ersten großen Auftritt arrangiert. Das war im März in Berlin vor einem Konzert der Backstreet Boys. Bruder Nick brachte ihn auf die Bühne. „Ihr kennt mich“, sagte er, „und der hier, der ist mein kleiner Bruder Aaron.“

Aaron wußte genau, was er zu tun hatte: Er warf eine Kußhand ins Publikum. Das habe er sich von Nick abgeschaut, sagt er. Die Mädchen kreischten, warfen Plüschtiere auf die Bühne, und Aaron war mit einem Mal so etwas wie ein Popstar. „Daß die Kids so ausflippen, kann man nicht planen“, sagt Martina Maiwald, die ihn für das Plattenlabel Edel entdeckte. „Aaron ist ein natürliches Kind, nicht zickig und hat einen unheimlichen Charme“, sagt Gabrielle Pike, Chefreporterin bei Bravo, „die Mädchen finden ihn einfach süß.“ Seit Mai hat Aaron in Straubing einen ersten Fanclub. „Es sind zu 90 Prozent Mädchen im Alter zwischen acht und zwölf, die uns schreiben“, sagt Rudolf Reim vom Aaron-Fanclub. Im August erschien Aarons bislang einzige Single „Crush On You“, eine Coverversion des alten Songs von den Jets. Zur Zeit ist sie auf Platz 5 der deutschen Charts und wurde über 200.000mal verkauft.

„Lange gab es keinen Kinderstar mehr“, sagt Gabrielle Pike, „aber jetzt scheint die richtige Zeit zu sein.“ Aaron und die drei Hanson-Brüder Isaac (16), Taylor (14) und Zac (11), die mit ihrer Single „MMMBop“ weltweit die Charts stürmten, sind in der Teenie- Presse präsent wie bislang nur die üblichen Boybands. Noch bevor die Hansons erstmals in Deutschland waren, hatte Bravo sie schon in Posterformat gedruckt. Daß Stars im Durchschnitt jünger werden, liegt daran, daß auch die Fans, die sich für das Seelenleben der Stars interessieren, jünger werden. Lag das Einstiegsalter für Bravo in den Achtzigern bei zwölf Jahren, so liegt es heute bei acht. Und Kinder wie Aaron zeigen, daß man sich auch als Neunjähriger Träume erfüllen kann. „Aaron ist im gleichen Alter seiner Fans und macht Karriere und Geld“, sagt Pike, „für Gleichaltrige ist er ein Idol.“

In den USA weiß man längst, wie man Kinderidole richtig vermarktet. „What do we drink when we write songs? MMMmilk. And you should too!“ steht über einer Anzeige im amerikanischen Rolling Stone, darunter die drei milchbärtigen Gesichter von Isaac, Taylor und Zac. Die neuen Kinderstars sind brav, unbekümmert – und moralisch. Daß die Hansons als drogenabhängige Rocker Hotelzimmer verwüsten, ist genauso unwahrscheinlich wie bei den Carters. Die Kinderlieblinge von heute sind anständig. Das einzige Mal, daß Nick einen Tisch demoliert hat, war ein Unfall.

„Es sind gute Kinder, sehr ausgeglichen“, sagt Mutter Jane stolz, „they stay out of trouble“. Justin (16) von N'Sync sagt: „Wir sind gute Jungs, und das, was wir tun, sollte ein bißchen von unserer Moral zeigen.“ Immer wieder erklären sie in Interviews, daß sie an Gott glauben, anständige Texte machen, nicht rauchen oder trinken. Die Stars von heute wollen nichts gemein haben mit den prügelnden und saufenden Altrockern von damals. Sie rebellieren nicht gegen gesellschaftliche Normen, sondern verkaufen ein Stück heile Welt – in Zeiten kaputter Ehen und hoher Scheidungsquoten.

Wie ein Relikt aus besseren Zeiten wirken die Großfamilien, aus denen viele der Kinderstars kommen: Aaron hat vier Geschwister, zur Kelly Family gehören neun Kinder, und die Hansons erwarten ihr siebtes Kind. In Köln muß die Polizei schon mal Kinder vom Hausboot der Kellys abholen, die von zu Hause weggelaufen sind, um dort zu leben. Wenn Aaron in Bravo erzählt, wie schön es bei ihm zu Hause sei, weckt das Sehnsüchte. Das sind beste Voraussetzungen, um Geld zu machen. Denn wo eine Nachfrage ist, da gibt es auch Angebote: Aarons Fanclub vertreibt Aaron-T-Shirts für 29,90 Mark, Aaron-Tassen für 14,90 Mark und Aaron-Mützen für 24,90 Mark. Von den Hansons gibt es demnächst auch ein Homevideo, das zeigt, wie die Stars zu Hause in Tulsa, Oklahoma, leben. Was für eine Bedeutung ein einfacher Sticker haben kann, schreibt Katrin M. aus Bismark in Bravo: „Das war wirklich suuuper! Ich habe es gleich auf mein Kissen gebügelt. So kann ich mit den süßen Boys immer schmusen.“

Aaron muß Interview- und Promotion-Termine einhalten, aber in dosierter Form. Statt dicht gedrängter Interviewmarathons werden schon mal vier Termine auf drei Tage verteilt. Die aufreibende Tour durch Diskotheken bleibt ihm erspart. Und überall, wo er hinkommt, gibt es Geschenke. Von Bravo bekam er nach einem Fototermin ein Saxophon überreicht. Seine Mutter achtet darauf, daß Aaron geregelt frühstückt, zu Mittag und Abend ißt – und das spätestens um 18 Uhr, damit er um 20 Uhr ins Bett kommt. „Niemand zwingt ihn“, sagt Martina Maiwald, die ihn anfangs für Edel auf Promotouren begleitete. Seiner Mutter sei es wichtig, daß er jederzeit aufhören könne, wenn er keinen Bock mehr habe.

Hinter der Halle warten Hunderte Fans, Kinder und Jugendliche, an den Absperrungen. Als Aaron auftaucht, bekommen einzelne Mädchen einen Gesichtsausdruck wie bei einem Magenkrampf. Aarons Tourmanager, mit der Statur eines Catchers, schickt ihn rüber zum Autogramme schreiben. „Ich gebe gerne Autogramme“, sagt Aaron und malt große, runde Buchstaben in Poesiealben. Die Mädchen, oft einige Köpfe größer als er, drücken ihm Stofftiere, Gummibärchen und Fotos in die Hand. Als Aaron danach noch ein Interview geben soll, hat er keinen großen Bock mehr. Aber er sagt es nicht, sondern läßt die Fragen über sich ergehen. Seine Antworten werden einsilbig. Und dann greift er einen dicken Filzstift und spielt mit dem schwarzen Plastikdeckel herum und blickt immer häufiger zu seiner Mutter. Sie drückt ihn an sich und streicht ihm durch die Haare. Aber viel Zeit bleibt nicht: Aaron muß sich noch umziehen, bevor es von Berlin nach Leipzig geht.

Weil ein Popstar „in viele Länder reist“

Aaron ist in Deutschland bei 13 Konzerten der Backstreet Boys im Vorprogramm aufgetreten, vor insgesamt rund 250.000 Menschen. „Er hat das alles hundertprozentig verkraftet“, sagt Gabrielle Pike. Er hätte jederzeit aufhören können, aber er wollte nicht. Aaron ist eben gerne Popstar, weil „man vor Tausenden auf der Bühne steht und in viele Länder reist“. Wie lange möchte er das noch machen? „Am liebsten immer.“ Aaron hat Gefallen gefunden am Starsein. Nach dem Berliner Auftritt im März spazierte er hinter Johnny Wright durchs Hotel, stolz wie ein Gockel. Unterwegs auf Reisen fragt er des öfteren: „Wo sind denn die Fans?“ Und im Flugzeug sollte seine Promotorin den Stewardessen erklären, daß er berühmt sei. Und falls die es nicht glaubten, solle sie doch Fotos aus der Bravo zeigen.

„Zeig doch selbst“, sagte sie – aber das traute er sich dann doch nicht.