Das andere Italien

■ Prodis Rücktritt zeigt: Viele Italiener sind mißtrauisch und verängstigt

Die Katze, so scheint es auf den ersten Blick, läßt das Mausen nicht. Italiens Politiker bleiben, was sie waren, auch in der sogenannten Zweiten Republik. Kaum richtet sich eine Regierung einigermaßen vertrauenerweckend ein, erwirbt internationales Ansehen und wird sogar von notorischen Spaghetti-Muffeln wie Theo Waigel mit neidischen Augen betrachtet, muß die Administration in die Wüste. Der zurückgetretene Regierungschef Romano Prodi sagt, es sei die „verrückteste Krise der Nachkriegsgeschichte“. Schließlich habe man die Inflation gedrittelt, das Haushaltsdefizit halbiert, die Neuverschuldung gar unter die drei Maastricht-Prozent gedrückt.

Dennoch hat die Krise durchaus ihren Sinn. Sie zeigt, daß unter diesem erfolgreichen, europawilligen Italien durchaus ein anderes, mißtrauisches, verängstigtes, vom Abstieg bedrohtes Italien existiert. Es wird nicht nur durch die Hardliner der Rifondazione Comunista und ihren Chef Bertinotti dargestellt, nicht nur durch die separatistische Lega Nord, nicht nur durch die Neonationalisten, die gegen das undurchschaubare Europa ihren Chauvinismus setzen. Dieses „andere“ Italien umfaßt große Teile der Industriearbeiter, der Bauern, der Handwerker. Sie werden durch die stets mit der Notwendigkeit eines Beitritts zu Europa begründeten Opfer immer mehr unter das Existenzminimum gedrängt – ohne daß das versprochene paradiesische Europa einigermaßen glaubhaft gemacht werden kann. Tagtäglich erleben die Italiener, wie die Regierung ihre Finanzen „in Ordnung“ hält: Lehrer warten seit einem halben Jahr auf ihr Salär, ganze Gemeinden stehen ohne Geld da, weil der Staat den ihnen zustehenden Etat einbehält, Patienten müssen Leintücher, Besteck und Klopapier selbst ins Krankenhaus mitbringen. Bertinottis Neokommunisten machen sich nun zum Anwalt all derer, die durch diese Zustände geschädigt werden.

Staatspräsident Scalfaro wird versuchen – mit Prodi oder einem anderen Übergangsregierungschef –, die eingeschlagene Europapolitik weiterzutreiben. Er, wie auch die Linke, täte aber gut daran, die von den Neokommunisten artikulierten Probleme ernst zu nehmen und nicht, mit Blick auf die vielleicht doch unausweichlichen Neuwahlen, mit allerlei Sprüchen vom „mangelnden Verantwortungsbewußtsein“ Bertinottis nur nach einem Sündenbock zu suchen. Werner Raith