Was ist krank, und was ist gesund?

■ Sehnsucht nach dem perfekten Körper: Die Gentechnik verspricht simple medizinische Lösungen und hat unser Menschenbild verändert

Wenn sich heute PatientInnen beklagen, daß sie statt eines Arztgesprächs ein Set von Labortests erhalten würden, dann ist dies das Resultat einer langfristigen Entwicklung. Große Fortschritte in der Schulmedizin und die Entwicklung von immer besseren analytischen Diagnosemethoden haben schon vor Jahrzehnten eine Änderung des Krankheitsbegriffes – weg von einer die ganze Person umfassenden Betrachtung und hin zu einer Fokussierung auf rein technische Aspekte – ausgelöst.

Gentechnik führt diesen Strang weiter und treibt ihn auf die Spitze. Je dominanter die Gentechnik in der Medizin wird, desto mehr verschiebt sich der Fokus auf die Gene. Waren es zunächst nur monogenetische Krankeiten (also solche Erbkrankheiten, die auf ein Gen zurückgeführt werden), kamen bald viele andere Krankheiten oder wenigstens die Veranlagung dazu, dann Verhaltensmerkmale, Charakterzüge... Die Eskalation war atemberaubend. Die Dominanz der Gentechnik in der Medizin führt dazu, daß es zu einer neuen Definition dessen kommt, was Krankheit und was Gesundheit ist. Je mehr wir über das menschliche Genom wissen, je mehr sogenannte Gendefekte wir kennen, desto mehr wird Krankheit als ein Gendefekt definiert. Es wird nicht mehr gefragt, ob das psychische oder soziale Umfeld eine Rolle spielt, ob sich die Leute akzeptiert oder wohl fühlen. Auch das Wort „normal“ enthält nun plötzlich eine genetische Definition. Die „Menschenlosigkeit“ in der Medizin hat einen neuen Höhepunkt erreicht.

Auch das Menschenbild ist im Wandel. Was uns früher „zum Menschen“ machte, war die Kultur, nicht die Biologie. Heute sind es unsere Gene, die uns dazu machen, die Kultur ist der Biologie untergeordnet. Unsere Gene – unser Los. Wir erleben ein Rollback zu einem sehr deterministischen Menschenbild. Und eine neue Form von Eugenik (Erbgesundheitslehre) wird wieder aktuell.

Die Gentechnologie hat also längst ihre wissenschaftliche Domäne verlassen und wird zu einem kulturellen Phänomen. In den USA ist sie bereits weit in die Populärkultur eingedrungen und ist in Werbung, Zeitungen, Romanen allgegenwärtig, wie die US-Professorin Dorothy Nelkin berichtet. BMW sei das „Auto mit dem genetischen Vorteil“, heißt es in ganzseitigen Inseraten, und die Konkurrenz doppelt nach mit „Toyota, mit seiner großartigen genetischen Ausstattung“. Doch auch bei uns scheint der kulturelle Siegeszug der Molekularbiologie voranzuschreiten. Nicht nur Krankheiten, auch Verhaltensmuster, Charaktereigenschaften oder unsere Identität, so heißt es, seien genetisch wesentlich vorbestimmt. Sowohl die Vergangenheit wie auch die Zukunft sind den Genen festgeschrieben – Gene sind „unsterblich“. Die Gentechnologie wird zur Beschwörungsformel der Zukunft, und die Gene erhalten eine beinahe mystische Macht.

Die Faszination dieser neuen Wissenschaft rührt wohl auch daher, daß sie in einer sich immer schwieriger gestaltenden Umwelt einfache Lösungen verspricht. Das „Freßsucht“-Gen zum Beispiel, das Jeffrey Friedman, Professor an der New Yorker Rockefeller University, bei Mäusen gefunden hatte und das auch beim Menschen vorhanden ist, hat Schlagzeilen gemacht. Das Bild, auf dem eine ganz dicke Maus neben einer dünnen Maus zu sehen ist (Titel: „Der Fettleibigkeit auf der Spur“), läßt niemanden unberührt – da werden tiefste Sehnsüchte angerührt. Die trügerische Hoffnung, daß es endlich eine einfache Methode gibt, schön und schlank zu werden: den Genschalter. Das Bild vermittelt auch den Eindruck: Wir können es, wir haben's im Griff. Fettleibigkeit sei ein Einzelfaktor, gentechnisch behebbar, losgelöst von Umwelt, sozialem Umfeld und psychischem Befinden. In der Zwischenzeit hat sich natürlich herausgestellt, daß das Problem der Fettleibigkeit sehr viel komplexer ist, doch solche Bilder bleiben haften. Und ganz nebenbei: Jeffrey Friedman hat das menschliche „Freßsucht“-Gen patentiert und die Lizenz für 20 Millionen Dollar verkauft – an Amgen, eine Tochterfirma des Basler Pharmakonzerns Roché.

Die andere Seite: Das geklonte Schaf Dolly hat in Europa und in den USA einen Proteststurm ausgelöst wie kaum je zuvor. Italien hat ein „Anti-Dolly-Gesetz“ verfaßt, und Clinton, Chirac und der Papst sahen sich zu öffentlichen Erklärungen genötigt. Warum das? Charlie Davidson, Professor in Sussex, nennt dies den „Yuk- factor“ (englische Kinder sagen angewidert „Yuk“, wenn sie etwas nicht mögen): Viele finden das geklonte Schaf einfach widerlich, als psychisch kaum zu ertragen. Da maßen wir uns etwas an, wovon wir die Finger lassen sollen...

Ob Dolly und der „Yuk-factor“ tatsächlich den Beginn eines kulturellen Wandels markieren, ob das Grauen über solche Experimente so groß ist, daß sich Verbote oder Grenzen durchsetzen lassen, und ob auch die Wut über die Zwangsverfütterung mit Gentech-Soja so groß ist, daß eine neue demokratische Widerstandsbewegung im internationalen Rahmen entstehen wird, ist wohl eine offene Frage. Florianne Koechlin

Die Autorin ist Biologin bei der Schweizer Arbeitsgruppe Gentechnologie