Noch kein Opernfrühling

■ Die letzten Bürgerkriegsfolgen wurden beseitigt. Madrid hat wieder ein Opernhaus. Es ist das runderneuerte alte und wurde feierlich eingeweiht

Die strategisch wichtigen Punkte waren allesamt von bezahlten Statisten besetzt. Sogar die Tischchen vor der Taberna del Alabardero in der Calle Felipe V. Starke Einsatzkräfte hielten die vielen Schaulustigen, einen durchaus repräsentativen Teil der Bevölkerung, auf der Plaza del Oriente in Schach. Zunächst wurden die Jubelspanier in der Hauptsache allerdings enttäuscht. Zwar konnten sie den Aufmarsch von Ministerpräsident Aznar und anderen Repräsentanten Madrids beklatschen, doch Juan Carlos und Gattin Sofia R. kamen nicht durch die Gasse, die vier Berittene freihielten. Erst in der Pause zeigten sich Los Reyes huldvoll an der taghell illuminierten Balustrade des Königlichen Theaters. Nach der „Traumhochzeit“ von Barcelona erhielt auch die Hauptstadt ein gebührendes Spektakel.

Nach neunjähriger Generalpause und Rundumerneuerung, nach noch zeitaufwendigeren Intrigen um das Konzept und das Personal der künftigen Betreiber- Crew des Teatro Real ging am Vorabend des Nationalfeiertages – entgegen allen Unkenrufen – doch der schwere Brokatvorhang auf. Ein anderes funktionierendes Musiktheater auf der iberischen Halbinsel existiert derzeit nicht, da das neue Haus in Sevilla nach der Expo 92 nie Orchester, Chor oder gar Ensemble erhielt und das Teatro del Liceu in Barcelona nach dem Brand von 1994 frühestens ab 2001 wird arbeiten können.

Die Kapelle entledigt sich der Hymne. Der Vorhang hebt sich für „Il sombrero des tres picos“ und einen naiven Blick auf die Dorfwelt Andalusiens und das beschauliche 18. Jahrhundert – ein Brunnen vor dem Tore, die Andeutung von Mühle und Brücke über den Fluß, in dem der Corregidor schließlich landen wird. Das heitere Ballett von 1916 erhielt seinen Namen vom Dreispitz, der Kopfbedeckung des Richters und Amtmannes, der die schöne junge Müllerin anbaggert, die glücklich mit ihrem Mann und vor sich hintanzt, während die Herrn der Compania de Antonio Márquezin in grellen Kostümen Säcke schleppen. Garcia Navarro hebt das Filigrane der Musik von Manuel de Falla hervor und läßt die deftigen Momente der herbeizitierten spanischen Volkstänze funkeln. Die vorzügliche Akustik in diesem 1850 erstmals eingeweihten Haus mit seinen fünf Rängen und rund 1.600 Sitzplätzen hat durch die Renovierung nicht gelitten (das ist keineswegs selbstverständlich). Und so feiern sich auf der Bühne, die technisch auf den modernsten Stand gebracht wurde, zum neuen Auftakt mit ungebrochenem Beifall jene Tugenden, die als Herz, Nieren und Gemächte der Hispanität gelten: Stolz, Feuer, Virilität.

Die Pause gibt Gelegenheit, die nun recht schlicht und moderat modern in Ocker, Braun, Gold/Messing ausgestatteten Foyers und Bars zu genießen. Madrid war gut beraten, dieses Schmuckstück aufzupolieren und nach mehr als sieben Jahrzehnten wieder seiner Bestimmung zuzuführen. Denn mit der Monarchie endete 1925 eine lange internationale Operntradition in der spanischen Hauptstadt: Die junge Republik setzte andere kulturpolitische Akzente, und auch nach dem Bürgerkrieg blieb das Teatro Real noch dreißig Jahre lang ganz geschlossen, wurde dann als Konzertsaal zweckentfremdet. Erst als 1988 das neue Auditorio Nacional seine Türen öffnete, kam der Beschluß zustande, dem Teatro de la Zarzuela (das die lokale Tradition der spanischen Operette pflegt) ein großes Haus mit internationalem Rang an die Seite zu stellen und so auch auf dem Feld der Oper den Anschluß an Europa zu suchen.

Zum großen Jubeljahr 1992, als die Entdeckung Amerikas gefeiert wurde, Sevilla seine Expo bekam, Barcelona die Olympiade, war in Madrid kein Geld für Abschluß der Arbeiten und Inbetriebnahme des Teatro Real vorhanden. Man verpflichtete aber mit Stéphane Lissner, der dem ChÛtelet in Paris zu hohem Rang verholfen hatte, einen erfahrenen Impresario. Doch der warf in diesem Frühjahr nach Auseinandersetzungen mit der Bürokratie und angesichts der nach rechts gekippten politischen Mehrheiten bei den Träger-Institutionen das Handtuch. Navarro trat an Lissners Stelle – ein Mann, der spanisch zentriert musikalisch, nicht dramaturgisch denkt.

Deshalb auch nach der Pause der Reapertura ein weiteres Dokument der Hispanidad: Da Fallas Bühnen-Erstling „La vida breve“ erschien in einer bieder-stadttheaterrealistischen Ausstattung. Der Esel und der Staub im Armenviertel waren echt. Hätte die Madrider Sopranistin Maria José Montiel die Partie der betrogenen Salud nicht so anrührend gesungen, wäre es wohl ein völlig enttäuschender Opernabend geworden: Nun wird es in Madrid darauf ankommen, das einzulösen, was Direktor Navarro im Vorfeld forderte: daß sich ein Ensemble bildet und die tägliche Arbeit wirklich „läuft“. Freilich ist der Weg Spaniens zum Musiktheater Europas noch oder wieder ziemlich weit. Denn ein Spanier macht bekanntlich auch noch keinen Opernfrühling. Frieder Reinighaus