Propheten, Geißler, Wiedergänger

Wie kam der Millenarismus in die Welt? Apokalyptik vom alten Ägypten bis zur Bewegung 2. Juni  ■ Von Mariam Lau

Geschichte, schreibt Inge Viett im selbstbewußten Fazit ihrer 1996 veröffentlichten Autobiographie, „ist das Ergebnis miteinander und gegeneinander kämpfender Kräfte.“ Widerstand werde immer unterdrückt, aber ohne Widerstand gebe es keinen Fortschritt. „Die Gesellschaft verrottet und verroht, sie geht geistig, moralisch, kulturell zugrunde, entfaltet Bösartigkeit und Größenwahn. Wie eine undurchtrennbare Stahltrosse zieht sich die konservative chauvinistische Herrschaft durch die Jahrhunderte“. Die Geschichte des Widerstands „war und ist notwendig und beispielhaft, gleichzeitig auch fehlerhaft, kümmerlich und ewig in der Minderheit.“ „Ist Thomas Müntzer nicht als Verbrecher gejagt und getötet worden? Auch seine herrschenden Zeitgenossen waren nicht in der Lage, seinen Kampf anders als mit Abscheu zu betrachten.“

Der Kampf zweier ewiger Prinzipien um die Weltherrschaft. Der bevorstehende Endsieg des Bösen, das sich mit dämonischer Mechanik durch die Zeiten fräst. Und schließlich das Schicksal der wenigen Aufrechten, deren geschichtliche Mission ihnen keine Zeit läßt, auf die Zustimmung der Zeitgenossen zu warten – Inge Viett fächert hier das Gedankensortiment der Endzeitprophetie auf, das man in Texten von RAF/2. Juni ebenso antrifft wie in der Offenbarung des Johannes oder in den Predigten Thomas Müntzers, der ebenfalls glaubte, die Erwählten müßten sich den Weg ins Tausendjährige Reich mit Waffengewalt bahnen.

Die Hartnäckigkeit, mit der sich apokalyptische Vorstellungen halten, scheint in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem Eintreffen zu stehen. Das Grotesk-Unheimliche, das einen beim Wiederlesen mancher RAF-Texte heute ankommt, 20 Jahre nach dem „Deutschen Herbst“ (auch so eine Endzeit-Metapher), hängt womöglich mit der Antiquiertheit dieser Motive zusammen. Leicht ist es, in dem ausgezehrten Holger Meins einen Wiedergänger der mittelalterlichen Geißler und Flagellanten zu sehen, in der hohlwangigen Gudrun Ensslin eine schwäbische Ketzerin des freien Geistes, die sich mit der Warnung vor dem jüngsten Gericht im Blick auf den Wege zur Selbstvergottung gemacht hatten.

Der britische Religionswissenschaftler Norman Cohn beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Apokalyptikern, Millenaristen und Endzeitverkündern. 1961 erschien „Das Ringen um das Tausendjährige Reich“, in dem Cohn sich mit dem revolutionären Messianismus des Mittelalters und dessen Verlängerungen bis hinein in die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts beschäftigt. „Was diese modernen Bewegungen vom üblichen Treiben der politischen Parteien Europas so scharf trennt“, so schreibt er über Kommunismus und Nationalsozialismus, „das ist eben ihre Art, sozialen Zielsetzungen und Konflikten transzendente Bedeutung zu verleihen, sie sozusagen mit dem gesamten mysteriösen und erhabenen Gehalt des entgültigen Weltuntergangsdramas auszustatten.“

Deshalb wundert es ihn nicht, daß sich in Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ eine begeisterte Würdigung der heterodoxen deutschen Mystik des 14. Jahrhunderts „mit Komplimenten an die Adresse der Begharden, Beginen und Brüder des freien Geistes“ findet. Friedrich Engels wiederum begründete den Thomas-Müntzer-Kult, dabei rasch den „Willen Gottes“ in den der Geschichte umdeutend, wie oben schon bei Inge Viett gesehen. Was Marx an seine Anhänger weitergegeben habe, so schreibt Cohn, sei nicht in erster Linie die Frucht seines langjährigen Studiums der Volkswirtschaft und Soziologie gewesen, sondern die Phantasie vom Kapitalismus als Babylon, dem Untergang in einem Meer von Feuer und Blut verfallen. Die Lehre von der natürlichen Gleichheit der Menschen gehörte ebenso zum Inventar beider Bewegungen wie der Gedanke der Auserwähltheit oder der von der Säuberung der Welt durch Ausrottung der Repräsentanten der Verderbnis. Wer das liest, kann sich mit der Vorstellung, Auschwitz sei das Produkt einer wildgewordenen Moderne gewesen, nicht mehr so recht anfreunden.

Mittlerweile emeritiert, widmet Cohn sich in seinem neuesten, nun bei Insel erschienen Buch „Die Erwartung der Endzeit“ dem Ursprung der Apokalypse. Wie kam der Millenarismus in die Welt? Dabei ist etwas entstanden wie die Geschichte des menschlichen Bewußtseins, der Entstehung erster Konzepte vom Schicksal der Welt und des Menschen. Grob gesprochen geht sie so: An den verschiedensten Orten der Welt gab es bis etwa 1500 v. Chr. eine verblüffende Übereinstimmung darin, daß die Welt am Anfang von einem oder mehreren Göttern schön geordnet worden ist. Bei dieser Ordnung sollte es ewig bleiben; sie zeigte sich, wenn Sicherheit, Fruchtbarkeit, Kriegsgewinn und ein stabiles soziales Gefüge herrschten. Aber natürlich war sie immer bedroht: wenn der Nil zu weit oder zu früh über die Ufer trat und die Saat verdarb, wenn Eroberer oder Seuchen kamen, sah man die Gegenspieler der freundlichen Götter am Werk. Es war dann an der Zeit, einen jungen Kriegsgott vorzuschicken oder die alten Kräfte zusammenzuraffen, um die Ordnung wieder in ihr Recht zu setzen. Das Entscheidende aber ist, daß sie im Prinzip unwandelbar war wie der Lauf der Sonne; der Sonnengott Re stand in engster Verbindung mit „Maat“, dem allumfassenden Ordnungsprinzip, das den Sockel des Throns und des ganzen Reiches bildete. Feindliche Mächte waren immer Chaosmächte. Etwas wie „Zukunft“, die sich von der Gegenwart oder der Vergangenheit unterscheidet, gab es nicht.

Anders als der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade sieht Cohn diese Verkoppelung zwischen Natur und zyklischem Denken aber nicht als ehernes Gesetz, sondern als eine Art Gesellschaftsvertrag. Herrschenden Priestern und Königen kam die Vorstellung einer unverbrüchlichen Ordnung zwar entgegen, aber sie glaubten nicht weniger an sie als ihre Untertanen, denen sie im Gegenzug Schutz versprachen. Und weil die ägyptische Gesellschaft im wesentlichen stabil blieb, ist es bei diesem Ordnungsdenken Jahrhunderte lang geblieben. Auch die mesopotamischen Zivilisationen teilten dieses Denken.

Aber weil Euphrat und Tigris unzuverlässiger waren als der Nil, und weil es zu einigen revolutionären Umwälzungen kam, setzte sich um 1500 v. Chr. durch den iranischen Propheten Zarathustra (= „der mit Schafen umgehen kann“!) erstmals eine Neudeutung des Weltkampfmythos durch, bei der schon im Diesseits dieser Kampf sein Ende finden und eine neue Zeit anbrechen würde, in der die Ordnung des Kosmos gänzlich ohne Chaos bestehen würde. Zarathustra for Zukunftsminister! Der Zoroastrismus, der übrigens noch heute weltweit etwa 130.000 Anhänger hat (die meisten davon leben in Indien) revolutionierte das Weltbild nicht nur durch seine Erfindung der Zukunft, sondern brachte auch eine schlagartige Demokratisierung durch die Einführung einer Art Ethik: Es waren nicht länger nur die Priester, die für den D-Day alles vorbereiten sollten, sondern alle. Die bewegliche Zeit hatte mit diesem Tag ein Ende, danach war Stillstand, ewige Glückseligkeit. Bewegliche Zeit war auch die Zeit der „Vermischung“: solange der Weltkampf herrschte, gab es das Gute und die Dämonen des Bösen nebeneinander. Reinheitsvorstellungen, die schon auf die zukünftige Trennung hinarbeiten, erfaßten bald das gesamte Alltagsleben. Aus diesen Reinheitsvorstellungen wuchs nach und nach ein Wall, der die Zoroastrier von den Kontaminierten trennte.

Man ahnt schon, daß es zwischen dieser persischen und der jüdischen Religion einen Transfer gegeben haben muß. Die Ablösung des Herbstfestes als wichtigstem jüdischen Fest durch das Pessachfest, bei dem nicht der ewige Zyklus der Natur, sondern die Geschichte gefeiert wird (nämlich die des Auszugs aus Ägypten) ist dafür nur ein Beispiel. Die häufigen Eroberungen und vor allem das Exil machten es unmöglich, den Glauben zu sehr an eine bestehende Ordnung zu koppeln – das Gesetz stiftete jetzt den Zusammenhang, an den sich jedes Mitglied des auserwählten Volkes halten mußte.

Was den Juden das Gesetz, wird den Christen der Glaube an Jesus. Unter der Verfolgung durch die Römer wird die Herrschaft von Königen ganz und gar nicht mehr als Ausdruck göttlicher Ordnung, sondern im Gegenteil als Werk des Satans enthüllt – was die offizielle Kirche dann später gern wieder zurücknahm, gegen den erbitterten Widerstand der Bettelmönche und freien Geister...

Apokalypse, so schreibt Norman Cohn, bedeutet „Enthüllung“, „Aufdeckung“. Sie soll uns ein Geheimwissen offenbaren, das bisher dem Himmel vorbehalten war. Die Geschichte dieses Geheimwissens, das kann man in jeder Akte X nachlesen, ist noch lange nicht zu Ende.

Norman Cohn: „Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen“. Francke Verlag, 1961, 350 Seiten, vergriffen.

Norman Cohn: „Die Erwartung der Endzeit. Vom Ursprung der Apokalypse“. Insel Verlag, Frankfurt/Main 1997, 421 Seiten, 56 DM