■ Heute beginnt die Frankfurter Buchmesse
: Ein Dichter und Mensch

Guntram Lanzendörper hat einen Namen. Nicht viel mehr als zwei Wörter sind es: Guntram Lanzendörper. Sein Beruf: Dichter. Was will er uns damit sagen?

Er lebt in Egelsheim, wo sein Geburtshaus steht, das dort auch erbaut wurde. Er wohnt in einem umgebauten Keller, dessen Vorratsregale entfernt wurden. Der Raum ist leer, die Wände kahl und unverputzt, nur hier und da hat der Dichter mit Hammer und Meißel etwas notiert. Bleistift und Papier besitzt er nicht. Da stehen zum Beispiel diese Zeilen:

Was sind das für Zeiten, / wo ein Gespräch über einen Mißstand /ein Verbrechen ist, / weil es ein Schweigen / über so wahnsinnig viel anderes Unrecht / einschließt.

Und zur Verdeutlichung weist Guntram mit seiner rechten Hand, die sich vorne am Arm befindet, nach draußen, wo sich die Schattenseiten der Gesellschaft befinden. Aber Guntram liest keine Zeitung, hört kein Radio, sieht nicht fern – nur manchmal, wenn er von einer öffentlichen Telefonzelle aus seine Mutter anruft, dreht sie den Fernseher auf, damit er die „Tagesschau“ mithören kann.

Guntram ist angekleidet. Manchmal, in Gedanken, geht er sogar rauf auf die Straße. Seine Jacke hat er auf Pfirsichkisten genagelt. Die Hose, liebevoll genäht aus Müllbeuteln. Natürlich trägt er die saubere Seite innen.

Ich frage ihn nach sich selbst. „Ich kam als Mensch zur Welt“, erinnert er sich. „Meine Mutter war zu arm, um einen Kinderwagen zu stehlen, und führte das Neugeborene, das ich ja damals noch war, in einem Schuhkarton aus.“

Der Schmerz übermannt ihn, und ehe ich eingreifen kann, hat er eine Rasierklinge in der Hand und schlitzt mir die Stirn auf. Am liebsten möchte ich ihn nun mit einem berühmten, großen Dichter vergleichen, aber ich kenne keinen einzigen. Ich frage ihn nach sich selbst. „Das Ziel erblickte ich stets darin, das Symbol von kalten auf heiße Achsen zu versetzen, das Ausgelebte in Gang zu bringen und für die Jagd nach dem Leben frei zu machen“, meint er. „Das ist Boris Pasternak“, sagt er. „Klar“, winke ich ab.

Dann schweigen wir, wortlos, sprachlos. „Sobald ich schreiben konnte, fühlte ich mich als Dichter“, bricht Guntram schließlich nach einigen Sekunden sein Wortfasten. „Das war mit zwölf.“

„Kennst du ein Wort, das sich nicht auf Liebe reimt?“ fragt er mich dann. Denn er arbeitet an einem ganz anderen Liebesgedicht. Plötzlich nimmt er seine Rasierklinge. Ich will mich schnell verabschieden, aber da reißt er sich schon ein paar Latten vom Leib und schneidet sich ein Gedicht in den Bauch. Ich lese rot auf weiß die Verse:

liebe / treibe / höbe

„Höbe?“ frage ich. „Ja“, leuchten des Dichters Augen, „reimt sich nicht auf Liebe!“

Bis heute hat Guntram Lanzendörper nichts veröffentlicht. Einst wollte er eine Kellerwand einsenden an eine Literaturzeitschrift, aber die Postbeamten, denen er sein Vorhaben darlegte, zeigten ihm nur etwas, was die schnöde Biologie einen „Vogel“ nennt. Und einmal, im Winter, hat er seine Gedichte auf Eisblöcke notiert – im Frühling schmolzen seine Werke dahin. Und mit ihnen der Traum, durch sie berühmt zu werden und sich vom Geld eine Tiefkühltruhe leisten zu können. Aber er hat sich jetzt eine neue Möglichkeit erschlossen. Er läßt sich einen Bart wachsen, so daß die Stoppeln, in der richtigen Reihenfolge gelesen, ein Gedicht ergeben.

Während er mir seine weiteren Pläne rhapsodiert und dazu mit der Stirn den Takt auf dem Estrich schlägt, nutze ich die Zeit, ein bißchen nachzudenken. Und ich komme zu dem Schluß: Nicht Guntram Lanzendörper, Dichter, sollte es heißen. Sondern viel, unendlich viel mehr: Guntram Lanzendörper, Mensch! Peter Köhler