Sachlichkeit, Anstand, Wahrheitsliebe

Eine Werkausgabe Siegfried Kracauers fehlt noch immer. Da bieten wenigstens die ausgewählten Feuilletons etwas Trost  ■ Von Erhard Schütz

Die Zeiten, in denen Siegfried Kracauer in den Personalakten der Frankfurter Schule von deren Direktorium als allenfalls attachierter Assessor geführt wurde, aus dessen Schriften sich die Schüler folglich nach Belieben referenzfrei bedienen durften, diese Zeiten sind längst vorbei. Erst unlängst hat die Veröffentlichung des Briefwechsels mit Panofsky wieder die eigenständige Bedeutung Kracauers vor Augen geführt. An den Folgen der früheren Rücksetzung des „wunderlichen Realisten“ (Adorno), sprich: bloß „anschauenden“ Feuilletonisten Kracauer haben wir aber noch in der Weise zu tragen, in der seine Schriften für uns zugänglich sind – oder eben nicht. Wie die Ausgabe der Schriften bei Suhrkamp sich so elend verschleppt, darüber ist hinlänglich geklagt worden.

Am meisten wird immer noch das Fehlen der Filmkritiken bedauert. Auch die verdienstvolle dreibändige Ausgabe der „Aufsätze“ war eine recht strikte – und strittige – Auswahl. Um so erfreulicher, daß 1996 die Zürcher Edition Epoca eine umfängliche Sammlung von Kracauers Berliner Feuilleton-Beiträgen für die Frankfurter Zeitung aus den Jahren 1930 bis 1933 vorlegte: „Berliner Nebeneinander“. Nun hat man einen zweiten Band folgen lassen, der annähernd 150 Beiträge versammelt, die Kracauer zuvor für die FZ geschrieben hatte. „Frankfurter Turmhäuser“ reicht von einer eher rührenden Juvenilie 1906 bis zum Jahr 1930, bis zum Zeitpunkt seiner Abschiebung nach Berlin.

Nun könnte man einmal mehr jammern, wie schade es doch sei, daß man die „großen“ und wirkungsvolleren Texte in den „Aufsätzen“ suchen soll, die kleineren und alltäglichen Texte nun hier finden kann und dazwischen die mit beiden eng verzahnten Filmkritiken immer noch missen muß. Wenn z.B. Kracauer eine Architekturkritik der „Neuen Lichtbühne“ schreibt und auf die Kritik des dort aufgeführten „Großfilms“ „Friedrich Schiller“ verweist, dann hat man das Gefühl, etwas vorenthalten zu bekommen. Doch das ist in dem Falle unberechtigt. Kracauer hat den Film gar nicht besprochen. Und statt zu klagen, wollen wir darum versuchen, fürs nun Vorliegende dankbar zu sein. Diese Auswahl der kleineren Texte besitzt den Vorzug, daß man mehr zu seinen Themen, zu den Zerstreuungen der Masse, zu Varieté, Zirkus und Revue lesen kann, endlich aber auch eine größere Zahl seiner Texte zur Architektur. Und man hat den nicht unerheblichen Vorteil, daß sich Entwicklungen in Kracauers Schreiben deutlicher konturieren.

So zeigt sich die Entstehung der ikonologischen Gesellschaftsanalyse aus dem Verfahren des Referats. Zwar sagt die editorische Nachbemerkung, daß man auf die Wiedergabe von Kracauers Vortrags- und Ausstellungsberichten eben wegen ihres Referatcharakters verzichtet habe, aber was wir nun lesen können, sei es zu Zirkus und Revue, sei es zur Architektur und zum Reisen, sind allermeist und zunächst fast nur: Referate. Nüchtern und trocken werden Sachverhalte dargestellt und Objekte beschrieben. Keine Plauderei, kein spritziges Aperçu, kein wohlfeiler Joke – gänzlich ernsthaft ist Kracauers Sprache.

1922, mitten in der Inflation, schreibt er in der Zeitung über die Zeitung: die „Reihe großer führender Zeitungen“ zeichneten sich „durch die Objektivität ihrer Nachrichten wie durch die Unabhängkeit ihrer Meinungen aus und wahren bei alledem eine geistige Haltung, die den Ansprüchen des gebildeten Leserpublikums durchaus Genüge zu leisten vermag. Die Grundzüge deutscher Wesensart: Sachlichkeit, Anstand, Wahrheitsliebe prägen sich auch in ihnen aus und verleihen ihnen ihren besonderen Charakter.“ Das ist, wiewohl er fast gleichzeitig den Zerfall der Bildung, den Bruch der Traditionen durch den Weltkrieg konstatiert, keineswegs ironisch gemeint. Man könnte es fast als eine Selbstcharakteristik lesen: Sachlichkeit, Anstand, Wahrheitsliebe.

Kracauers Schreiben und Schreibgegenstände indizieren den Weg von der alten zur neuen Sachlichkeit. Vom Werkbund zum Bauhaus: hier vom Haus des Werkbundes 1921 zu Ernst Mays Wohnhaus 1926, im Schreibstil vom gravitätischen Objektivismus zum nüchtern pointierenden Sarkasmus.

1923 setzt er sich mit der allgemeinen „Vergnügungswut“ auseinander, deutet sie als Ausdruck „des Ausgestoßenseins aus jeder festeren Lebensordnung“ und bringt dann „Gründe sachlicher Art“ vor, warum man sich mit Feuerwerken mäßigen sollte – um die vor den Toren stehenden Franzosen nicht zur Annahme zu verlocken, es gehe den Deutschen immer noch zu gut, und aus Rücksicht auf die „Tausende von Flüchtlingen aus dem Rhein- und Ruhrgebiet“. Darauf folgt, unter Anspielung auf Friedrich Theodor Vischer, sein Credo: „Was zum Schlusse noch das Moralische betrifft, so versteht es sich entweder von selbst und bleibt dann besser unberedet, oder es versteht sich nicht von selbst, dann aber hilft es auch nicht viel, wenn man nur große Worte von ihm macht.“

Kracauer sucht zunehmend die Gründe der Oberfläche. Die neue Sachlichkeit ist „der Strenge unseres äußeren Lebens gemäß“, aber daß „dieser Konstruktivismus nur ein Durchgangsweg zu erfüllteren Gestaltungen sein kann“, schreibt er 1926, „muß nicht ausdrücklich erst gesagt werden“. Und im selben Jahr, zur Sexualaufklärung, in der „der Radikalismus des Verhüllens und des Sagens“ einander wert seien, pointiert er das Barbarische der Sachlichkeit: „Mangel an Takt.“ Ein richterliches Urteil aufgrund einer Kampagne religiöser Fanatiker in den USA gegen die Darwinsche Abstammungslehre, wonach die „Abstammung des Menschen vom Affen bis auf weiteres unterbunden“ sei, führt ihn 1925 zu der lapidaren Formulierung, daß der „Fundamentalismus“ eine Reaktion auf den „herrschenden Industrialismus“ sei, „ein Zeichen dafür, daß die von Ford behauptete prästabilisierte Harmonie zwischen Geschäftsblüte und sozialer Wohlfahrt eine sehr zweifelhafte Harmonie ist, die, bestünde sie selbst, krassen Mißtönen Raum neben sich ließe.“

Was wir mühselig via Wälzer wiederentdecken, hat dieser „Chemiker der Gesellschaft“ (Kracauer) seinen Tagestexten noch und noch eingeschrieben. Ein sorgfältig und schön gemachtes Buch, das man mit Genuß lesen kann, hat man nun obendrein. Bleiben noch die Filmkritiken...

Siegfried Kracauer: „Frankfurter Turmhäuser. Ausgewählte Feuilletons 1906–1930“. Hg. v. Andreas Volk. Edition Epoca, Zürich 1997, 335 Seiten, 49,50 DM