Sein und Schein im zentralen Lichthof

Am Wochenende wird in Karlsruhe in einer ehemaligen Munitionsfabrik das Zentrum für Kultur und Medientechnologie (ZKM) eröffnet. Damit leistet sich das Land Baden-Württemberg das modernste Institut für computergenerierte audiovisuelle Medien in Europa  ■ Von Jürgen Berger

Das Pariser Centre Pompidou ragt höher, dafür ist das ZKM wesentlich länger und liegt mit seiner technologischen Innenbestückung singulär in der europäischen Landschaft. Einziger Haken an der Geschichte: Karlsruhe ist nicht Paris. Es hat also schon was Skurriles, daß ausgerechnet in der nordbadischen Beamtenstadt das modernste europäische Zentrum für neue Kunst und alle audiovisuellen Spielarten computergenerierter Multimedialität entstanden ist. Bisher fuhr man möglichst schnell an Karlsruhe vorbei, in die Schlagzeilen geriet die Stadt – wenn überhaupt – dann durch höchstrichterliche Entscheidungen. Ansonsten litt der Karlsruher still im Schatten des nahen Stuttgarter Regierungssitzes: Der Schwabe ist halt einfach gerissener und der Südbadener ein raffinierterer Winzer. Was nützt es da, daß der Nordbadener der bessere Mensch ist?

Ab nächstem Wochenende könnte sich das ändern. Denn allmählich scheint es sich sogar in Karlsruhe herumzusprechen, daß mitten in der Stadt eine ehemalige Munitionsfabrik steht, die nicht nur das amerikanische Flächenbombardement Ende des Zweiten Weltkriegs wundersam überlebt hat, sondern in den letzten Jahren auch zu einem mit allen technischen Rafinessen ausgestatteten multimedialen Wallfahrtsort ausgebaut wurde. Und zwar für all diejenigen, die an der Schnittstelle von moderner Kunst und Computertechnologie forschen.

Ein schillerndes Zwitterwesen. Einerseits ist das ZKM eine High- Tech-Produktionsstätte, andererseits kreieren Multimediakünstler hier zusammen mit ihren Studenten verrückte virtuelle Welten. Das Zauberwort der Stunde: Interface. In den ZKM-Instituten für Bildmedien, Musik und Akustik wird erforscht, inwieweit komplizierte Computerprogramme durch anwendungsfreundliche Benutzeroberflächen spielerisch verfügbar gemacht werden können. Seit 1991 nennt sich das Ganze Staatliche Hochschule für Gestaltung (HfG) und wird von Gründungsdirektor Heinrich Klotz (60) geleitet. Noch von Ex-Ministerpräsident Lothar Späth berufen, bastelt der Kunsthistoriker seit Ende der 80er Jahre an seinem Lebenswerk und hat so ganz nebenbei eine der umfangreichsten Sammlungen neuer Kunst aufgebaut.

Ein Teil davon wird ab dem Wochenende im ZKM-Museum für neue Kunst zu sehen sein. Mit der Austellung, die Klotz aus seinen Depots wechselnd bestückt, bebildert er seinen umstrittenen Theorieansatz einer „Zweiten Moderne“. Ein Paradebeispiel des neuen Nebeneinander aller Stile von der Abstraktion bis hin zu medialen Kunstformen: Marie Jo Lafontaine, die mit ihrer Vdeoskulptur „Les Larmes d'acier“ (1987), aber auch mit minimalistischen Bildern vertreten ist.

Dominiert wird dieser Teil des ZKM von Fabrizio Plessis Monumentalinstallation „Tempo Liquido“, ein Mühlrad aus Videomonitoren, mit dem er ironisch das mediale Grundthema „Sein und Schein“ umspielt. Das Videorad sieht man auch vom darüber liegenden Stockwerk, wo der Besucher im ersten deutschen Medienmuseum Forschungsergebnisse aus den ZKM-Instituten testen kann. Per Joystick, Laserstift oder eigener Hand geht die Reise ab in einen interaktiven Disneypark. Jill Scott etwa hat an der Außenwand ihrer Black box „Frontiers of Utopia“ (1995) zwei Nischen eingelassen, auf daß man mit dem Laserstift ein kommunikatives Verhältnis zum eigenen Körper aufbaue. Ganz ernst ist es natürlich nicht gemeint, wenn auf dem gewölbten Bildschirm plötzlich Organe auf den Körpersurfer zugerauscht kommen, er sie nacheinander rausklickt und durch Annäherung des Laserstiftes bis in Mikrostrukturen eindringt, um am Ende vor ein Gesundheitsrätsel gestellt zu werden. Ich habe da am Anfang bei der Gewichtsangabe etwas geschummelt. Vielleicht war das der Grund, daß ich nach Leber und Lunge in meiner Gebärmutter landete und dort mitgeteilt bekam, ich solle als Mittel gegen Unfruchtbarkeit den Bauch einer Schwangeren waschen. Im Ganges, wenn ich mich richtig erinnere.

Nebenan, in Bruno Cohens „Camera Virtuosa“ (1996), ist zuerst einmal Verwirrung angesagt. Hinter einer Glasscheibe baut sich eine dreidimensionale Kulisse auf, beginnt ein Tänzer zu tanzen und den Besucher zu animieren. Merkwürdigerweise ist der mitten in die Szene versetzt, bewegt sich auf den Tänzer zu oder verkriecht sich in eine Ecke. Der Trick: Der ganze Raum ist mit Kameras und Schallsensoren bestückt, auf daß der reale Mensch ins virtuelle Bild befördert werde.

Draußen dann die eigentliche Überraschung: Errötend stellt man fest, daß andere Besucher das Ganze auf Videomonitoren verfolgen konnten. Also nichts wie weg zu einer ruhigeren Box, damit die gestreßte Seele Erholung beim Blumenstreicheln finde. Das gibt es in Christa Sommerers und Laurent Mignonneaus „The Interaktive Plant Growing“ (1992). Farne und andere Pflanzen warten in ihren Töpfen auf des Besuchers Hand. Je nachdem, wie heftig man sie berührt, kommt es aufgrund des Spannungsgefälles zwischen der Hautoberfläche der Pflanzen und des Besuchers auf einem Screen zu Urwaldwucherungen oder filigranem Wachstum. Danach fühlt man sich als kleiner Gott oder wie nach einem Jahrmarktsbesuch. Waren es früher Geisterbahnen oder Spiegelkabinette, sind es jetzt genau kalkulierte virtuelle Welten.

Mit der interaktiven Multimedialität setzte auch die Diskussion ein, ob es durch derartige Gestaltungsmöglichkeiten für Zuschauer nicht zu einer Demokratisierung in den Künsten komme. Eine Diskussion, so virtuell wie alles im Medienmuseum, da man sich in den Black boxes lediglich in den Grenzen der Konstruktionsvorgaben bewegt. Das sieht auch Heinrich Klotz so, dem ein anderer Aspekt der neueren Mediendiskussion wichtiger ist: die Behauptung, heutige Zeitgenossen könnten nicht mehr zwischen Realität und Simulation unterscheiden. Eine absurde Behauptung, sagt er, denn obwohl man die Simulation einer Berg- und-Tal-Fahrt heute so umsetzen könne, daß es dem Betrachter tatsächlich schlecht würde, wisse er immer noch, daß er nicht wirklich in einer Achterbahn sitze.

Geht man mit dem Chef D'Oeuvre durch die Hallen des ZKM, wirkt er wie einer, den nach jahrelangem Kampf um sein Projekt nichts mehr umhauen kann. Rückendeckung bietet die gewachsene Männerfreundschaft des gelernten Pfälzers mit seinem schwäbischen Ministerpräsidenten. Wäre Erwin Teufel nicht gewesen, gäbe es das ZKM nicht, sagt Klotz und ist sichtlich zufrieden, daß er einen Großteil seiner Pläne umsetzen konnte.

Dazu gehören das modernste europäische Tonstudio und Solarzellen auf den langen Oberlichtreihen der ZKM-Lichthöfe, die Strom in den öffentlichen Nahverkehr speisen. Eine aparte Vorstellung: die Stadt an der langen Stromleine des ZKM. Gekostet hat das Ganze 120 Millionen, womit der Nachwelt allerdings auch eines der interessantesten Industriegebäude aus den 20er Jahren erhalten wurde und so ganz nebenbei eine der weltweit umfangreichsten Mediatheken entstand.

Im Preis inbegriffen ist auch der Umbau der letzten Lichthöfe, in denen kurz vor der Jahrtausendwende eine weitere Morgengabe aus Stuttgart Platz finden wird: das Sammlermuseum illustrer baden- württembergischer Privatiers wie Frieder Burda, in dem es vor lauter Polkes, Kiefers, Warhols, Beuys' und Lüpertz' nur so wimmeln wird. Für die wollte man in Stuttgart eigens bauen, bis Landesvater Teufel den Prestigekampf zugunsten Nordbadens entschied. Dort gibt es, wie gesagt, eine Stadt, an der man früher eher vorbeifuhr.

Am Samstag erscheint auf der Medienseite ein Artikel, der sich mit dem Thema Multimediale Vernetzung am ZKM beschäftigt.