Johannes R. Bechers Gummikissen

Als „Alien“ unter Arien und in einer bizarren DDR: Günter Kunert verkleidet sich als Taugenichts und Simplicissimus, um seine Autobiographie zu erzählen. Nicht nur deshalb gibt es reichlich zu lachen  ■ Von Frauke Meyer-Gosau

Das Kind ist ängstlich, nachts lauern Monstren in jeder Ecke. Folglich sammelt es Waffen und will Indianer werden. Die Mutter, überzeugt, ihr Sohn werde mitnichten Indianer, sondern ein bedeutender Künstler (weswegen frühzeitig zielgerichtete Beschallung des Kindes mit Operettenmusik erfolgt) – diese Mutter deckt, fördert und unterstützt fraglos alles, was ihr Sohn sich in den Kopf setzt. Er fühlt sich in der Schule nicht wohl? Er bekommt einen Entschuldigungsbrief. Er liebt es leidenschaftlich, in anderer Leute Schubfächern zu wühlen? Nun gut, das wird immer wieder ein bißchen peinlich, wenn man bei ehrenwerten Damen zum Kaffeekränzchen ist, aber Mutter regelt auch das.

Auch bei dem unendlich geduldigen, mit skurrilem Humor gesegnetem Vater, einem Kleinstunternehmer in Sachen Kalenderherstellung, ist der Sohn glücklich aufgehoben. Folgt man nur dem in allerhand Schnurren und Absonderlichkeiten Erzählten, man müßte anfangs glauben, hier werde die Kindheit eines überbehüteten Oblomov rekapituliert, einer hypochondrischen, verwöhnten und versponnenen, kleinen Nervensäge. Wie nebenbei aber rücken zunehmend historische Stichworte ein, die die Überfürsorglichkeit der Eltern und das verängstigte, die Schultortur fliehende Kind in ein anderes Licht setzen: Pogromnacht, Wannsee-Konferenz, Deportationen, Krieg.

Günter Kunert, der in dem Band „Erwachsenenspiele“ nun 50 Jahre seiner Lebensgeschichte erzählt, ist 1929 in Berlin geboren. Nazi-Deutschland hatte das wunderliche Kind als „Mischling 1. Grades“ gebrandmarkt: die Mutter, von der der Junge das Wort „Moskau“ als Passepartout zu einer paradiesischen Gegenwelt gelernt hat, ist Jüdin, der Vater „Arier“. So sind Kind und Mutter vor dem Abtransport ins Todeslager geschützt, allerdings nur, solange der Vater am Leben ist. Wie es Kunert gelingt, diese bedrohte Kindheit lange als eine scheinbar ganz normale, scheinbar vor allem von familiärer und persönlicher Exzentrizität geprägte Entwicklung zu zeigen, ist bewundernswert. Denn für keinen Augenblick wird der Schrecken unter den kuriosen Beobachtungen und Anekdoten gelöscht. Fühlbar bildet die Bedrohung den Subtext dieser Lebensgeschichte, der sich mit zunehmender akuter Bedrängnis bis an die Oberfläche durchschreibt.

Das erzählbar zu machen ist heikel, die richtige Perspektive zu wählen schwierig. Kunert hat sich für die „Erwachsenenspiele“ eine literarische Verkleidung als Taugenichts und Simplicissimus angelegt, die sich besonders in der Erzählung der Erwachsenenjahre bewährt – gesehen durch die Maske dessen, der in aller Arglosigkeit und scheinbar planlos erst zum Kunsthochschüler, schließlich zum von Johannes R. Becher geförderten Schriftsteller avanciert (die Mutter hatte doch recht!), dazu abgefaßt mit dem Understatement eines teilnehmenden, doch gefährlich pointensicheren Beobachters, nehmen sich die Bizarrerien des DDR-Literaturbetriebs noch einmal grotesker aus. Und so gibt es hier viel zu lachen, über den Agitprop-Dichter Kuba etwa, der am 17. Juni nach militärischem Einsatz ruft und zu hören bekommt: „Was willst du denn – da kommen deine Leser!“, über die reliquienartige Zurschaustellung von Johannes R. Bechers aufblasbarem Gummisitzkissen, in dem noch der Atem des verblichenen Meisters weht, oder schließlich über den Autor Karl Mundstock, der die Klage über den Weggang gerade der besten DDR- Schriftsteller nach der Biermann- Ausbürgerung mit dem stolz-dummen Gekräh des ewigen Letzten beantwortet: „Dann sind wir eben jetzt die Besten!“

Zwar zeigt Kunerts distanzierend satirische Sicht auch positiv überraschende Differenzierungen des sonst oft monolithisch erscheinenden Bildes von Personen, Staat und Partei, doch sind es vor allem manifeste Zeichen für eine ungebrochene Kontinuität deutscher Unterdrückungs- und Vernichtungsgeschichte, die jenseits all des Lachhaften zu denken geben. Nur selten findet Kunert es nötig, seine Beobachtungen zu kommentieren, doch wenn ein Parteifrommer auf dem ersten „Lehrgang des deutschen Schriftstellerverbandes“ nach einer kabarettistischen Alberei urteilt: „Du gehörst ins Lager!“, und alle übrigen Anwesenden schweigen, dann ist ein Nachsatz unvermeidlich: „Daß man Gegensätze und Gegnerschaften mittels simpler Gewalt aus der Welt schafft, haben sie von Hitler gelernt, den Lehrmeister vergessen, doch die Lehre behalten.“

Mit „Rot gleich Braun“ hat das nichts zu tun – dazu sieht der „registrierende Zeuge“ Kunert einfach zu genau hin, unterscheidet auch eigene Erfahrung zu genau, als daß er sich mit ideologisierendem Trara abgäbe. Im Gegenteil: Die Präzision extrem verknappter Beobachtung und Beschreibung macht – neben den teils umwerfend komischen, teils gelassen entblößenden Anekdoten von realexistierenden Ost-Schriftstellern und ebensolchen West-Magiern (ein Leckerbissen: der Philosoph Marcuse als Ekel Herbert) – die besondere Qualität der „Erwachsenenspiele“ aus. O-Töne aus den staatlichen Überwachungsagenturen, die das Parteimitglied Kunert seit 1957 mit ihrer Aufmerksamkeit verfolgten und hier nun seitenweise die Berichterstattung übernehmen, liefern der Text-Inszenierung einen befremdlichen zweiten Blick. Sie lassen zudem die zunehmende Verdichtung der Gespinste obrigkeitlichen Verfolgungswahns sich vor den Augen des Lesers vollziehen, bis endlich Kunert mit Ehefrau Marianne und nicht weniger als sieben in Tiefschlaf versetzten Katzen am 10. 10. 1979 das „Land des Röchelns“ verläßt.

Als „Alpha Centaurianer“ und „Alien“ hatte sich Kunert seit den siebziger Jahren in der DDR empfunden. Fünfzig Jahre alt, dockt er noch einmal auf einem anderen strange planet an: Itzehoe/Schleswig-Holstein heißt die Station. Und da es leider unvorstellbar ist, daß die verwirrenden, grausamen, tristen und belustigenden Spiele der Erwachsenen sich dort nicht fortgesetzt hätten, wird der fortgesetzte Bericht des Augenzeugen K. hiermit dringend erbeten!

Günter Kunert: „Erwachsenenspiele. Erinnerungen“. Hanser Verlag, München 1997, 446 Seiten, 49,80 DM