Unter Wildsauen, Ottern und Wölfen

■ Artemis aus Köpenick: Helga M. Novak zeigt sich in ihrem Gedichtband "Silvatica" als Herrin der Tiere und der Pflanzen

Der Einband ist tannengrün, waldfarben: Der Wald als Lebensstation eines vielgereisten, umhergetriebenen Menschen, Flucht- und Ankunftspunkt einer Dichterin in ihrer Landschaft. Lebend zwischen Auerhähnen und Wildsauen, unter Ottern und Wölfen, geleitet die Dichterin uns in ein Dasein, das außerhalb unserer Zeit zu existieren scheint.

Helga M. Novak lebt, nach vielen verzweifelten Welt-Reisen, nunmehr im polnischen Wald, mit einem Wilddieb, dem Liebsten, den sie Ohrtrompete nennt: Eustachos, ein Name wie ein Gott. Sie kann kaum Polnisch, er kein Deutsch (hat sie mir mal gesagt); und des Winters trägt man dort Fellstücke vom Dachs in den Schuhen und trinkt schwarzes gesalzenes Bier. Die freie Jagd des Liebsten, der das Überleben sichert, steht gegen die Staatsjagd. Er ist das gleichsam Verbotene, das zum Frevel erklärte, der freie Tierfang, die Freiheit schlechthin. Ängste, Hunger und Verfolgung, aber auch traumatische Erinnerungen an die Kindheit und den Rest des Lebens, der jetzt das tückische Alter einläßt, kennzeichnen das Befinden der Dichterin an diesem Ort.

Doch ist es keine Caprice der 62jährigen Poetin, sich derart abenteuerlich an den Rand der Existenz zu stellen, sondern ein inneres, vielleicht endgültiges Finden eines Ruheortes. Der junge Eustachos, die Liebe, frei jeder gesellschaftlichen und moralischen Normen, steht darüber hinaus als Sinnbild des Glücks in seiner tierisch-ursprünglichen Form. Helga M. Novak hat einen Band voller Liebesgedichte geschrieben, zarte Hymnen an den Wilderer: „...so abenteuerlich / hat mir noch keiner den Weg verstellt / dunkel und auf der Pirsch und gesetzlos...“ Die Artemis, die Göttin der Jagd und des Naturlebens, tritt in den Versen nur selten als Dichterin-Ich zutage: Sie ist die Herrin der Tiere und Pflanzen und in ihrer Einsamkeit selbst manchmal Tier.

So hält sie Zwiesprache mit der Natur. Herausgelauschtes, Mitgefühltes, Aufgenommenes geht in Sprache ein, vergleichbar mit kunstvoll gesponnenen Fangnetzen. Die Verse stehen ohne Interpunktion, und wenn man bedenkt, mit welch steter Unrast die Autorin ihre Lebensorte wechselte, scheint dies zwangsläufig. Die späten Gedichte Helga M. Novaks verweigern sich der Einordnung in literarische Kategorien: Es ist weder Betroffenheits- noch Naturlyrik, sondern ein ganz eigener, unvergleichlicher Ton. Die Gedichte stehen für sich, aber wer das Leben und die Literatur der in Berlin-Köpenick geborenen Dichterin kennt, findet womöglich einen leichteren Zugang zu der nicht immer einfach verständlichen Poesie. Ähnlich abenteuerlich wie das Leben im Wald gestaltete sich ihre Biographie: geboren 1935, vom Kinderheim für elternlose Kinder zu gehaßten Adoptiveltern nach Erkner, Kaderschule, Eliteschule, Studium, von da Flucht nach Island zurück in die DDR, Fließbandarbeit, Elektroschweißen, Isländer geheiratet, Islandreise, „Arbeit im Fisch“, Teppichweberei, zu Fuß nach Barcelona, Studium am Leipziger Literaturinstitut, Rausschmiß, Aberkennung der DDR-Staatsbürgerschaft, „Arbeit im Fisch“, halbe Welt durchreist, zurück nach Berlin, nach Jugoslawien, heute im polnischen Wald.

Die ersten beiden autobiographischen Prosabände „Die Eisheilige“ und „Vogel federlos“ sprechen von diesem Leben. Novaks Ton ist intensiv, zärtlich, direkt, manchmal auch grob und polternd. Aber was seit jeher einem Dichter zum Ruhme gereicht, wird einer Dichterin wie Helga M. Novak oft zum Vorwurf gemacht. Sie ist eine literarische Außenseiterin, weil sie sich nicht anpaßt, sich auf keine herrschende Seite geschlagen hat, und der Literaturbetrieb in Ost und West ihr zeitlebens widerwärtig gewesen ist.

1966 aus der DDR ausgewiesen, verhielt sie sich in stillem Zorn, ungefällig für jede Marktverwertung. Angefangen hat sie Anfang der sechziger Jahre mit unverstellter politischer Lyrik, geschult an Brecht. Es folgten Prosaarbeiten, die die entfremdete Arbeit in den Fabriken zum Thema hatten. Oft stellte sie die beschädigten Lebensläufe der Menschen dar, und gemeint hat sie damit auch immer sich selbst. Es war aber weder Arbeiter- noch Frauenliteratur im geläufigen Sinne, sondern eine spröde, selbständige Literatur, die aus Enttäuschung und Hellsichtigkeit heraus entstanden ist. Die Lyrik löste sich mehr und mehr von den alten Vorbildern und wurde subjektiver, vielschichtiger und damit weniger „kampfbereit“. Einer ihrer schönsten Gedichtbände ist der jüngste: „Silvatica“, Wald. Kerstin Hensel

Helga M. Novak: „Silvatica“. Gedichte. Schöffling & Co., Frankfurt/Main 1997, 128 Seiten, 38 DM