Flucht nach vorn

■ Helmut Kohl bestellt Wolfgang Schäuble zu seinem Nachfolger

Für die Parteitagsdelegierten war es eine Lektion in Sachen Mediendemokratie. Denn der Kanzler nutzte nicht den Leipziger Parteitag, um seine wesentliche Botschaft zu verkünden – er bediente sich der Medien, um die Kunde von seiner Nachfolge zu verbreiten.

Helmut Kohl wird gern und oft ein intuitives Verständnis nachgesagt, wenn es um den Machterhalt und um die Stimmung in der CDU geht. Doch offenbar hat Kohl seine Intuition dieses Mal verlassen. Erst unter dem Eindruck, daß die Delegierten Wolfgang Schäuble eher die Kompetenz zur Lösung der anstehenden Aufgaben zutrauen als dem CDU-Chef selbst, ergriff Kohl die Flucht nach vorn. Indem er Schäuble jetzt öffentlich zu seinem Nachfolger kürt, bindet er ihn in die eigenen Strategien ein. Ein Kohl-Nachfolger mit Namen Schäuble, so das Kalkül, kann nicht anders, als den bisherigen Kanzler bis zu dessen Ablösung bedingungslos zu unterstützen. So wird es auch Schäubles Alleingänge, wie zuletzt in der Frage einer möglichen Erhöhung der Mineralölsteuer geschehen, nicht mehr geben. Doch dieses Kalkül wird nur bis zur Bundestagswahl aufgehen. Kohls Seismograph für die innerparteiliche Stimmung ist untauglich geworden. Der versuchte Befreiungsschlag ist keiner, denn Schäuble steht nun nicht mehr im Schatten des Kanzlers. Im Gegenteil: Der Kanzler stellt sich unfreiwillig in den Schatten seines Nachfolgers. Den Kurs der Union wird fortan eher Schäuble bestimmen.

So wird Schäubles Rolle in der Union nun noch einmal aufgewertet, auch wenn der Kanzler sich weigert, den Termin für den Machtwechsel bekanntzugeben. Der Horizont der weiteren Entwicklung in Bonn öffnet sich. Denn anders als Kohl kann sich Schäuble durchaus in Bonn eine Große Koalition vorstellen. Und wenn es nach der Bundestagswahl im Herbst des kommenden Jahres zu einer Entscheidung darüber kommen sollte – am Willen des designierten Nachfolgers kann keiner mehr vorbei, auch Kohl nicht.

Kohls Weigerung, einen Zeitpunkt für seine Ablösung zu nennen, wird die Spekulationen ins Kraut schießen lassen. Modellrechnungen gab und gibt es reichlich. Etwa die, daß Kohl die Wahl gewinnt, um dann nach spätestens zwei Jahren den Stab an Schäuble weiterzureichen. Seriös waren die Spekulationen bisher nicht. Sie sind aber um einiges plausibler geworden. Wolfgang Gast