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■ Fünfzig Freiwillige wollen sich in den USA mit entschärften Aidsviren infizieren lassen. Getestet werden soll ein Lebendimpfstoff gegen Aids. Noch sei die Zeit nicht reif für solche Versuche, kritisieren Forscher Von Michael LenzRisikoreiche Impfungen mit Aidsviren

Die Selbstversuche seien ein „Selbstmordkommando“, meint der Leiter des Robert-Koch-Instituts

in Berlin, Professor

Reinhard Kurth. Zu groß

sei die Gefahr, daß neue, gefährliche Aidsviren entstehen. Noch gebe es

bei den Impfstoffen zu

viele offene Fragen.

In Deutschland hätten

die Versuche vorerst

keine Chance, genehmigt

zu werden.

Die Meldung sorgte für Wirbel: Fünfzig Freiwillige aus den USA wollen sich in zwei Jahren einen Aids-Impfstoff injizieren lassen, der aus abgeschwächten, aber noch aktiven HI-Viren besteht. Die Probanden, hauptsächlich Ärzte und Angehörige anderer medizinischer Berufe, gehören der renommierten International Association of Physicians in Aids Care (IAPAC) an. Deren Direktor Charles Farthing hat angekündigt, den Selbstversuch der fünfzig, allesamt gesund und HIV-negativ, in zwei Jahren leiten zu wollen. Grundlage des spektakulären Vorhabens ist ein Lebendimpfstoff, den der US-Virologe Ronald Desrosier von der Harvard-Universität in Boston entwickelt hat. Der gentechnisch hergestellte Impfstoff wurde bereits an Affen getestet. Tiere, denen ein abgeschwächter Erreger – das dem HIV verwandten Affen-Aidsvirus SIV – injiziert wurde, entwickelten keine Infektion, nachdem ihnen der Wildtyp des SIV gespritzt wurde. Die Affen waren immun.

Das Sensationelle an der Ankündigung der fünfzig besteht darin, daß es bisher nie jemand gewagt hat, einen aus abgeschwächten HI-Viren bestehenden Lebendimpfstoff am Menschen zu testen. Das Echo kam auch prompt: Fast einhellig lehnten Aids-Experten das Vorhaben ab. Robert Gallo, einer der Entdecker des HIV, bezweifelt, daß aufgrund der langen Inkubationszeit bei Aids, immerhin bis zu 15 Jahre, überhaupt verwertbare Erkenntnisse bei dem Versuch herauskommen könnten. Auch die UN-Organisation zur Bekämpfung der Immunschwächekrankheit Aids (UNAIDS) übte Kritik: Die Gruppe könne mit dem Versuch sich selbst und die Umwelt gefährden. Die meisten Wissenschaftler halten eine Erprobung einer Aids-Vakzine am Menschen für verfrüht. So auch Professor Reinhard Kurth, Leiter des Robert-Koch- Instituts in Berlin. Der renommierte Virologe ist am Paul-Ehrlich-Institut bei Frankfurt/Main selbst mit der Aids-Impfstoff-Forschung beschäftigt. Kurth führt, wie viele seine Kollegen, Sicherheitsbedenken ins Feld. Es gebe noch zu viele offene Fragen, meinte der Virologe.

Bislang noch unpublizierte Daten zeigten, daß auch abgeschwächte Viren bei Affen mit einem geschwächten Immunsystem zu Aids führen können. Das war bei Neugeborenen, deren Immunsystem in den ersten Lebenswochen noch nicht ausgreift ist, ebenso der Fall wie auch bei erwachsenen Tieren, deren Immunabwehr zu Testzwecken vorübergehend abgeschwächt wurde. Die Wissenschaft befinde sich derzeit auf einer Gratwanderung, sagte Kurth. „Schwächt man das Impfvirus gentechnisch so sehr ab, daß es sich nicht mehr vermehren kann, wird kein Impfschutz erzielt. Schwächt man es zuwenig ab, wird es keinen vollständigen Schutz bewirken“, erläuterte der Wissenschaftler. Problematisch sind die durch einen Lebendimpfstoff möglicherweise auftretenden Nebenwirkungen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die abgeschwächten Impfviren durch die Rekombination mit anderen im Blut des Menschen befindlichen Viren ihr aidserregendes Potential wiedererlangen. Auch könnten die Impfviren Krebstumore auslösen.

Kurth führt noch ein anderes Risiko an: Die mit einer abgeschwächten HIV-Lebendvakzine befrachteten Probanden wären potentiell infektiös. Die Probanden müßten daher für den Rest ihres Lebens Safer Sex praktizieren. Daß dies aber nicht in jeder Situation gelinge, zeigten die mehrjährigen Erfahrungen mit der Aids- Prävention. Der Virologe befürchet, „daß dadurch ein Erreger in Umlauf gebracht wird, der sicherlich nicht so gefährlich ist wie das Wildtypvirus, das man aber auch nicht unterschätzen darf“.

Den Einwand, eine mögliche HIV-Infektion trotz einer Schutzimpfung sei nicht mehr das dramatische Ereignis wie noch vor zwei Jahren, da es inzwischen wirkungsvolle Präparate gegen das Virus gebe, möchte Kurth nicht so recht gelten lassen. Trotz aller Erfolge mit den antiviralen Kombinationstherapien seien deren Nebenwirkungen zum Teil noch beträchtlich, und rund 20 Prozent der Betroffenen sprächen auf die Therapien überhaupt nicht an. Es handele sich bei den Substanzen eben nicht um „Aspirin“, und „etwa 20 Tabletten am Tag zu schlucken sei auch nicht die reine Freude“, merkt Kurth an und warnt vor der Illusion, es gebe bereits „die Pille danach“. Die Forscher stehen vor einem Dilemma: Alle warten ungeduldig auf einen Impfstoff. Der erfolgversprechendste Weg, da sind sich die meisten Virologen einig, scheint eben der mit einer Lebendvakzine aus abgeschwächten HIV zu sein. Die bisherigen Versuche, auch bereits am Menschen, mit Totimpfstoffen sind fehlgeschlagen.

Professor Kurth glaubt, daß noch einige Jahre ins Land gehen werden, bis man ernsthaft an eine klinische Studie mit einem Aids-Lebendimpfstoff an Freiwilligen denken dürfe. Kurth sieht die Aids- Impfstoff-Forschung in einer Phase der leichten Stagnation. Es fehle an neuen konzeptionellen Vorstellungen: „Wir Wissenschaftler stellen offenbar nicht immer die richtigen Fragen, aber kein Mensch kann uns sagen, was die richtigen Fragen sind.“ Hoffnungen setzt Kurth in ein neues Aids-Vakzine-Forschungsprogramm in den USA, das unter der Leitung des Medizinnobelpreisträgers von 1975, David Baltimore, steht und dessen Aufgabe es unter anderem ist, zusammen mit Kollegen einen Think Tank zu bilden, der die richtigen Fragen formulieren soll. Die US-Administration will dem Programm bis zu 400 Millionen Dollar zur Verfügung stellen.

Noch besteht Hoffnung, daß es gelingen kann, einen Lebendimpfstoff zu entwickeln, dessen Erprobung auch ethisch vertretbar erscheint. Da sich aber der menschliche Organismus im Labor und mit Tieren nur sehr bedingt simulieren läßt, sind die so gewonnenen Erkenntnisse nicht einfach auf den Menschen übertragbar, sondern müssen in klinischen Studien am Menschen erprobt werden. Zuerst muß mit einer relativ kleinen Testgruppe, in der sogenannten Phase 1, die Sicherheit überprüft werden. Erst in der Phase 2 mit mehreren tausend freiwilligen Teilnehmern wird die eigentliche Wirksamkeit des Präparates getestet.

Und genau an diesem Punkt entstehen eine Reihe ethischer Fragen. Die Gefahr einer durch Rekombination des abgeschwächten Virus verursachten Aids-Erkrankung bleibt ebenso bestehen wie das Risiko der Tumorbildung, auch wenn es der Forschung gelingen sollte, die Gefahren zu minimieren. Das nächste große Problem ist das Studiendesign. Das übliche Verfahren ist eine plazebokontrollierte Studie. Einer Gruppe wird die Aids-Vakzine verabreicht, einer anderen ein harmloser, nutzloser Wirkstoff, wobei die Teilnehmer nicht wissen, zu welcher Gruppe sie gehören. Der Virologe Kurth bezweifelt, daß man es „ethisch vertreten kann, eine Plazebo-Gruppe einzusetzen“. Verzichtet man aus ethischen Gründen auf eine plazebokontrollierte Studie, für die 2.000 bis 3.000 Teilnehmer wohl genügen würden, muß man die Erprobung der Vakzine an einer wesentlich größeren Gruppe von Menschen ausprobieren. Kurth schätzt diese auf mindestens 10.000 Personen. Das wirft nicht nur größere Rekrutierungsprobleme auf, sondern bedeutet auch einen größeren Aufwand und noch mehr Kosten. Vor allem aber ein größeres Risiko, sollte der Impfstoff doch nicht so sicher sein wie angenommen.

Doch trotz dieser zahlreichen Einwände sind Charles Farthing, Ronald Desrosier und die fünfzig Freiwilligen keine Traumtänzer oder Helden. Ihr Coup ist eine perfekt kalkulierte Kampagne. Sie haben gezeigt, daß es keinen Mangel an Freiwilligen für die nicht risikolosen Versuche gibt. Sie haben das Augenmerk auf die ungeklärten wissenschaftlichen Fragen gelenkt. Und vor allem haben sie frühzeitig die Diskussion der mit diesen Studien verbundenen ethischen Fragen eröffnet.

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