An der Seite der Mörder

Wehrmachtssoldaten wurden immer wieder zu Vollstreckern der Nazis. Friedrich Hassenstein ist einer, der sich zu diesen Verstrickungen bekennt  ■ Von Florian Knöppler

Die neuen Kerle aus Deutschland sollten ruhig wissen, welcher Wind hier im Osten wehte. Feldwebel Schröder ließ die Rekruten antreten und hielt eine kurze Ansprache, bevor er mit der Ausbildung begann: „Sie können stolz sein, auf diesem Acker geschliffen zu werden. Unter Ihren Füßen liegen Tausende Juden, Ukrainer und anderes Pack.“

Aus den Augenwinkeln blickte Friedrich Hassenstein zu seinen Kameraden hinüber. Nirgendwo erschien die kleinste Regung im Gesicht. Und am Abend sprachen die anderen wie immer über die Verpflegung und den ersten Heimaturlaub. So versuchte der 18jährige die zynischen Worte seines Feldwebels zu vergessen, wenigstens für ein paar Stunden.

Seit jenem Herbsttag 1943 hat sich über so manches ein dunkler Schleier gelegt. Aber die Ansprache des Ausbilders von der Wehrmacht klingt Hassenstein noch immer im Ohr, sie ließ sich auch später nicht verscheuchen.

Der hagere, große Mann nimmt einen Schluck Tee, schaut kurz auf die Buchrücken in einem Regal und erzählt von seinem Mißtrauen gegenüber Erlebnisberichten aus dem Zweiten Weltkrieg, gegenüber Filmszenen und Beschreibungen, die Fakten allzuleicht mit der Erinnerung vermischen. Und so mag der ehemalige Germanistikprofessor verständlicherweise auch nur von dem erzählen, was ihm klar vor Augen steht.

Dazu gehört seine Rolle als Außenseiter. Als er 1943, direkt nach Abitur und Einberufung, in die ukrainischen Pripjet- Sümpfe zur Ausbildung kam, da stand für alle bald fest, daß er ein ausgemachter Trottel war. Er rannte nur halb so schnell wie die anderen, traf bei den Schießübungen selten mal die Zielscheibe und konnte die Waffe auch nach tagelangen Übungen noch nicht zerlegen. Und abends, wenn die anderen ihren Skat kloppten oder unter kernigem Gejohle Zoten rissen, saß er in irgendeinem Winkel und las Hölderlins „Hyperion“.

Als er bei einer Übung wieder mal versagte und ängstlich dastand, da brüllte ihn der Unteroffizier an: „Hassenstein, wenn ich Ihre Kinderaugen sehe, dann möchte ich Ihnen in die Fresse schlagen.“

Neben ihrer Ausbildung erhielten die neuen Rekruten bald auch erste Aufträge. So hatten sie ukrainische Zivilisten auf dem Weg zu einer Sammelstelle zu bewachen. Verängstigte Frauen, Männer und Kinder. Von denen hieß es lakonisch, sie seien bei Razzien in ein paar Dörfern aufgegriffen worden.

Stundenlang marschierte Hassenstein schon neben der Kolonne, als ihn plötzlich ein kleines Mädchen nach dem Ziel fragte. Der junge Soldat antwortete in wenigen Worten: „Zu einer Sammelstelle. Da kriegt ihr neue Ausweise.“ Aber das reichte schon. Ein Vorgesetzter zog ihn sogleich beiseite und zischte: „Noch ein Wort zu diesen Leuten, und du kommst vors Kriegsgericht.“ Hassenstein nickte betreten und hielt den Mund. Erst später ging ihm auf, daß das Mädchen jiddisch gesprochen hatte. Nur deshalb hatte er es überhaupt verstehen können.

„Von Gaskammern und Verbrennungsöfen wußte ich da noch nichts. Aber ich hatte natürlich eine dunkle Ahnung von etwas Furchtbarem“, sagt der 71jährige, knetet die schlanken Finger und sucht, wie schon so oft, nach Gründen für die durchweg willige Ausführung der Deportationsbefehle.

Seine Kameraden zeigten damals nicht die geringste Spur von Mitleid oder Unwillen. Vielleicht wollten sie nicht als weichlich gelten oder waren schon jetzt durch die Angst ums eigene Leben hart und mitleidslos geworden. Vielleicht aber waren viele tatsächlich davon überzeugt, Juden seien Feinde und müßten unschädlich gemacht werden. Hassenstein selbst bekämpfte in diesen Wochen alle quälenden Gedanken und freute sich, wenn es am Abend endlich eine heiße Suppe gab.

Tagsüber wurde er immer wieder an den Rand seiner seelischen Kräfte getrieben. Bald nach disem knappen Gespräch mit dem jüdischen Mädchen wurde ein Deutscher ermordet aufgefunden. Der Täter stammte angeblich aus den Reihen der ukrainischen Hilfswilligen. Grund genug, zehn Ukrainer auszuwählen und unter dem Vorwand einer Fronttheater- Aufführung in den Wald zu locken.

Hassenstein und seine Kameraden mußten die Gruppe eskortieren. Schießen mußten sie noch nicht, denn sie waren ja noch in der Ausbildung.

Der naive Junge aus gutbürgerlichem Hause verstand zunächst gar nicht, worum es ging. Er lief mit den anderen durch den dämmrigen Fichtenwald und hatte Angst vor Partisanen, die in dieser Gegend immer wieder zuschlugen. Plötzlich sah er, wie einer der Ukrainer dem Bewacher neben ihm den Inhalt seiner Taschen übergab: „Hier nimm, ich kann es ja nicht mehr gebrauchen.“

Als sie schließlich zu einer Waldlichtung kamen, war es schon fast dunkel. Die Soldaten umstellten die Opfer, eine Art Urteil wurde verlesen. Erst jetzt kam Panik auf. Drei Ukrainer fingen an zu schreien, einer versuchte wegzulaufen und wurde sofort erschossen. Dann hörte Hassenstein nur den kurzen Befehl zum Anlegen und eine Salve. Plötzlich war ihm, als hätte er den Mund voller Blut.

„Mein Glück war, daß ich noch nicht schießen durfte. Ich weiß nicht, was ich getan hätte.“ Der pensionierte Wissenschaftler reibt weiter seine Finger und schaut ruhelos im Raum umher. Für ihn ist klar, daß er in einen Mord verstrickt wurde, daß er zum Komplizen wurde. Doch eine persönliche Schuld sieht er nicht: „Ich hätte mich vielleicht dazwischenwerfen können, aber ich war einfach kein Märtyrer.“

Hassenstein erzählt von damals, auch wenn ihm die Öffentlichkeit bei diesen Gelegenheiten manchmal unangenehm ist. Er spricht weiter, von der fatalen Zwangslage, entweder Komplize oder Märtyrer zu werden, vom fehlenden dritten Weg: „Deshalb dürfen solche Situationen gar nicht erst entstehen.“

Die Frage der Schuld ließ ihn seit dem Krieg nie los. Warum wurden Soldaten zu Mördern? Weshalb wäre vielleicht auch er zum Henker geworden, wenn er nur einen Schießbefehl erhalten hätte? Antworten versuchte sich Hassenstein schon zu geben, nachdem er 1944 im östlichen Lettland in russische Gefangenschaft geraten war. Sobald er nach Jahren schwerer Krankheit und Abmagerung zur Besinnung kam, schrieb er ein Gedicht. Die Ballade „Mörder aus Angst“:

... Was tun? Die Angst betäubt mich

und raubte

mir fast das Denken, während meine Hand

sich um das Griffstück der Pistole

schraubte,

... und sonst nur trübe Flut

rings um uns her -- ! Genug, ich hab'

geschossen!

Seitdem klebt auch an meinen Händen

Blut ...

Hassenstein hatte nicht geschossen, er hatte als Wächter Beihilfe geleistet. Seine Erfahrungen mit der deutschen Barbarei erleichterten ihm später die russische Gefangenschaft: Anders als viele andere Gefangenen sah er eine gewisse Logik der Vergeltung und Buße für das, was sie den Russen angetan hatten. Die Gefangenschaft war für ihn nicht bloße Schikane, an der man verzweifeln mußte.

Auch nach dem Krieg blieben ihm seine ehemaligen Kameraden fremd. Als er 1948 entlassen wurde und bald in Göttingen Germanistik und Geschichte studierte, waren die erlebten Verbrechen und Greuel fast nirgends ein Thema. Hassenstein hielt sich nicht an das Tabu. Er warf seine Erfahrungen bei der Diskussion um die Wiederbewaffnung in die Waagschale. In der Universitätszeitung berichtete er über die zynische Ansprache seines Feldwebels Schröder, über das Erschießungskommando, die Deportationen und die Gefangenschaft.

Kurz nach dem Erscheinen seines Artikels begegnete er auf dem Flur des historischen Seminars einem Assistenten. Der baute sich vor ihm auf und machte seinen Gefühlen Luft: „Wie können Sie sich vermessen, die Wehrmacht derartig in den Schmutz zu ziehen? Das ist eine Schande.“ Hassenstein sagte nicht viel und konnte nur auf die Offiziersuniform starren, die der Mann noch immer trug.

Aber der Professor, für den dieser Assistent arbeitete, wurde durch den Artikel von Neugierde gepackt. Was für ein Mann war wohl dieser Hassenstein? Der Historiker zitierte den unbekannten Studenten zu sich, ließ sich berichten und schwieg bedrückt. Aber dann brach es wütend aus ihm hervor: „Wenn das so ist, dann sollte man alle Wehrmachtsgenerale gleich einsperren. Die gehören alle hinter Gitter.“ Der Mann hatte noch nie mit einem Augenzeugen der Verbrechen gesprochen. Kein Wunder, denn wer damals Genaues wußte, hielt lieber den Mund. Das Bild der tapferen Streitkräfte hatte Anfang der 50er Jahre noch längst keine Risse.

Hinter Gitter wanderten nach dem Krieg bekanntlich nur wenige der Verantwortlichen. Oftmals kehrten Nazirichter in ihre Ämter zurück und zeigten nur spärliches Interesse an Aufklärung der Verbrechen und Verfolgung der Straftäter. Die alte Elite saß wieder im Sattel.

„Das war schlimm mit anzusehen. Niemand wußte von den Verbrechen, niemand war verstrickt, und niemand wollte etwas wissen.“ Hassenstein schüttelt noch einen Moment lang den Kopf, ist mit den Gedanken jedoch schon woanders: bei seinen Schülern im niedersächsischen Einbeck, wo er in den Nachkriegsjahren als Geschichtslehrer auch Auschwitz behandelte.

Häufig kamen die Kinder morgens in die Schule und sagten: „Das stimmt gar nicht, was in dem Buch steht und was Sie uns erzählt haben. Mein Vater hat gesagt, das war ganz anders.“

Aber diese Jahre sind lange her, die Kinder sind längst erwachsen und Auschwitz eine unbestrittene Tatsache. Um so absurder erscheint es Hassenstein, daß der Mythos der sauberen Wehrmacht bis heute fortlebt. Das hat ihm der Münchner Protest gegen die Ausstellung über Wehrmachtsverbrechen noch einmal schmerzlich vor Augen geführt: „Was mag in den Köpfen von diesen Leuten bloß vorgehen, die da voller Wut auf die Straße gehen?“

Schwer vorzustellen für jemanden, den manchmal noch heute jenes jüdische Mädchen fragt, welches Schicksal es erwartet.