■ Vom namenlosen Bilderbuchautor bis hin zu Fräulein Smilla: eine weibliche Lesebiographie, streng subjektiv
: Das Pünktchenprinzip

Am Anfang war das Bild. Genauer gesagt: die Ente. Eine schöne, gelbe Badewannenente. Neben ebenfalls sehr ansprechenden anderen Spielwaren „stand“ sie in meinem ersten Bilderbuch. Ich guckte sie immer wieder – bis ich sie schließlich auch sagen konnte: „Ente.“

Mit den Wörtern kamen Geschichten zu den Bildern sowie erste geschlechtsspezifische Vorlieben zum Vorschein. Denn während mein Kindergartenfreund am liebsten Tiergeschichten hörte und guckte, wollte ich gerne „was mit anderen Kindern“. Davon abgesehen fand ich Prinzessinnen attraktiver als gestiefelte Kater.

Lesen lernen – eine Sensation. Endlich unabhängig! Von den Vorlesewünschen der anderen und von den Vorlesern selbst, die, wiewohl insgesamt verdienstvoll, gerade die Wiedervorlage besonders gern gehörter Geschichten oft strikt verweigerten. Es begann die Zeit des großen Weglesens. Ich hatte sie alle, geschlechtsübergreifend: die Feen und den Räuber Hotzenplotz, die kleine Hexe und Jim Knopf. Prima Geschichten, zu deren Figuren ich aber keine besondere Beziehung entwickelte.

Und dann, ganz unvorbereitet, war sie plötzlich da, meine erste echte Heldin der Literatur. Eine, die ich nicht einfach weglas, sondern an der ich hängenblieb: Pünktchen. Die mit Anton. Sie hatte etwas wunderbar Autonomes, war ironisch, praktisch und: komisch. Obwohl ich die ersten drei Wörter damals noch nicht kannte, wußte ich: Genauso wollte ich auch werden! Um solche Personen sollte es in meinen Büchern gehen! Pipi Langstrumpf, das stärkste Mädchen der Welt, kam zu spät: Wer Pünktchen werden will, ist nämlich schon zu alt fürs Pferdestemmen. Immerhin übernahm ich von Pipi für mein Idealbild noch den Sachensucher.

Das Weglesen ging weiter. Ohne störende Ansprüche auf Orientierung verschlang ich den Kinderbuchkanon meiner Zeit, von „Märchen der Völker“ über alle Endes und Lindgrens bis Enid Blyton. Pünktchengestützt identifizierte ich mich mal hier und mal da, aber weder Hanni noch Nanni, noch die Mädchen in den Pferdebüchern konnten mir etwas anhaben. Ich nahm sie höflich zur Kenntnis.

Dann plünderte ich die elterliche Bibliothek – in der Schule lasen wir derweil längst Thomas Mann und das Fräulein von Scuderie, aber das gehört nicht hierher –, und mit Pearl S. Buck, Daphne du Maurier und den ersten Simmel-Romanen ging es, noch immer in schmökernder Unverbindlichkeit die Welt erlesend, durch eine insgesamt recht behagliche Pubertät.

Gerade rechtzeitig zu deren Ende fand ich ein weiteres Pünktchen: Miss Marple. Auch sie war autonom, ironisch, praktisch, komisch – und ein Sachensucher! Ihr System, durch schlagende Analogien („Das ist genau wie bei dem Hausmädchen unseres Pfarrers“) Probleme zu lösen, leuchtete mir unmittelbar ein, und ich übernahm diese Technik augenblicklich.

Und dann war ich plötzlich groß, und die Frauenbewegung wurde erfunden und die Zweierbeziehung und das Verzweifeln. Jetzt ging es nicht mehr um Weglesen, sondern um Selbstbilder und Mitredenkönnen. Ich kaufte mir eine lila Latzhose und fing an. Las Simone de Beauvoir wegen der Verzweiflung; aber die war leider genauso eifersüchtig wie ich, und wie in ihrem Roman „Sie kam und blieb“ die Nebenbuhlerin einfach umzubringen kam damals nicht in Frage. Ich las Verena Stefan und Anja Meulenbelt wegen der Selbstbilder, aber die lösten die Männerfrage, indem sie einfach lesbisch wurden – wieder nichts für mich. Ich las den „Tod des Märchenprinzen“ wegen des Mitredenkönnens – allein: so blöd war kein einziger Mann, den ich kannte. Und ich auch nicht. Ich war schließlich Pünktchen Marple, also zog ich die Latzhose wieder aus und trank nie mehr wieder auch nur eine einzige Tasse Vanilletee.

Natürlich las und lese ich noch immer. Susan Sontag, Camille Paglia und Judith Butler allerdings nur aufrecht sitzend und am Tisch. Beim Schmökern leiten mich hingegen nach wie vor meine Lieblingsfrauen, und manchmal finde ich sie auch wieder. In den Detektivinnen der Krimiautorinnen Patricia Cornwell und Sarah Paretsky zum Beispiel. Oder in Fräulein Smilla. Bei Eva Heller, Rosamunde Pilcher oder Hera Lind kommen sie dagegen nicht vor. Zuwenig Pünktchen – und zu viele geschwätzige Superweiber. Barbara Häusler