Generation ohne Perspektive

■ Das Ausbildungsjahr hat begonnen, noch immer hängen 43.000 Jugendliche in der Luft

Die Zahlen als Erfolg zu verkaufen, hätte Bildungsminister Jürgen Rüttgers sich nicht getraut. Aber nach der Misere, die sich im Verlauf des Sommers abgezeichnet hatte, klang das Ergebnis bei der Vorstellung der Arbeitsmarktdaten für September gar nicht so schlecht: 93 Prozent der Ausbildungsplatzsuchenden seien versorgt, so der Bildungsminister.

Man kann es auch anders sehen: Einen Monat nach Beginn des Ausbildungsjahres hängen immer noch 43.500 Jugendliche in der Luft. In Ostdeutschland dürfen sich 15.200 Bewerber um 600 freie Plätze prügeln; in Westdeutschland gibt es rein statistisch „nur“ 8.000 Jugendliche „zuviel“. Das wiederum liegt laut Rüttgers auch daran, daß sich „fast 50 Prozent nur auf zehn Berufe bewerben“. Anders gesagt heißt das, daß jeder zweite inzwischen einen Beruf erlernt, der mindestens auf Platz elf der persönlichen Prioritätenliste steht – also etwas, was er oder sie niemals ernsthaft hätte werden wollen und vermutlich auch nie besonders engagiert betreiben wird.

Das zeigen auch ganz andere Zahlen: Immer mehr Lehren werden abgebrochen; immer häufiger steigen Leute in einen Beruf ein, den sie nie gelernt haben. Die Shell-Studie 1997 dokumentiert auf einer anderen Ebene die Folgen der Arbeitsmarktsituation: 92 Prozent der Jugendlichen halten Arbeitslosigkeit für ein großes oder sehr großes Problem. „Die Krisen im Erwerbssektor haben die Jugend erreicht, verbauen die Zukunft und stellen den Lebenssinn der Generation in Frage“, heißt es in der Studie.

Eine Verbesserung der Situation ist nicht in Sicht: laut Hochschulinformationssystem (HIS) entscheidet sich nur noch jeder zweite Abiturient für ein Studium – mit dem Erfolg, daß selbst Schuhgeschäfte inzwischen nur noch Lehrlinge mit Abi nehmen, Hauptschüler so gut wie aus dem Rennen sind. Und in den nächsten zehn Jahren wird die Zahl der Schulabgänger um 30 Prozent steigen. Die Zahl der ausbildenden Unternehmen aber sinkt weiter.

Trotzdem besteht in einem Punkt zwischen den Parteien und auch in weiten Teilen der Gewerkschaften nach wie vor Einigkeit: Das duale System ist richtig und wertvoll. Und: Ausbildung kann keine staatliche Aufgabe sein; die Wirtschaft muß – ob mit oder ohne Ausbildungsabgabe – in die Pflicht genommen werden.

Dabei ist kaum zu übersehen, daß der Staat sich längst der Ausbildung angenommen hat: Nach Schätzungen des DGB haben die Berufsberater der Arbeitsämter alleine im September etwa 100.000 Jugendliche vom Lehrstellenmarkt genommen und in schulische Kurse gesteckt. In Sachsen- Anhalt preschte Ministerpräsident Reinhard Höppner bereits im Juli vor und kündigte an, 3.500 Jugendliche ohne Ausbildungsvertrag in Berufsschulen und bei freien Trägern ausbilden zu lassen. Mit dem „Aktionsprogramm Lehrstellen Ost“ wollen Bund, neue Länder und Berlin bis 2001 für 70 Millionen Mark neue Lehrstellen schaffen – davon zahlreiche bei freien Trägern. Alleine in Berlin werden so bereits in diesem Jahr 2.280 Jugendliche untergebracht – davon knapp 600 in sogenannten „vollschulischen Ausbildungsgängen.“ Sie werden Einzelhandels- oder Bürokaufmann lernen, ohne einen Betrieb zu betreten.

Mindestens 1.000 Jugendliche kommen auf Kosten der Bundesanstalt für Arbeit acht bis zehn Monate lang in „berufsvorbereitenden Maßnahmen“ unter. Das soll zum Beispiel Tischlern Grundkenntnisse vermitteln – und die Jugendlichen seelisch darauf vorbereiten, im kommenden Jahr wieder um eine Lehrstelle zu kämpfen.

Bisher rufen nur wenige wie der Berliner Politikwissenschaftler Peter Grottian laut nach der Verantwortung des Staates und fordern, „für 50.000 Ausbildungsplätze 600 Millionen Mark“ hinzulegen. Dennoch ist deutlich, daß die bisherige Unterbringungspolitik zum einen die Statistiken, zum anderen aber auch die staatliche Beteiligung an der Ausbildung kaschiert – und das oft genug durch wenig sinnvolle und teure Maßnahmen. Und, wie die Leiterin der Berufsberatung im Landesarbeitsamt Berlin/Brandenburg, Dorothee Gordon, sagt, daß man „die Leute oft nur in eine Warteschleife schickt“. Jeannette Goddar