Hunderte Leichen trieben in der Seine

Angeregt durch den Prozeß gegen Maurice Papon will Frankreichs Regierung die Archive öffnen, um das Polizeimassaker an algerischen Demonstranten in Paris 1961 aufzuklären – nach 36 Jahren Vertuschung  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Es war gestern vor 36 Jahren: 30.000 „muslimische Franzosen“ gingen in Paris gegen das nächtliche Ausgehverbot auf die Straße. Die Demonstration, zu der der algerische „Front de Libération Nationale“ (FLN) aufgerufen hatte, war verboten. Die Polizei war um 10.000 Mann verstärkt worden. Ab 20.30 Uhr schlug, knüppelte und schoß sie in die Menschenmenge. In den Tagen danach fischten die Arbeiter der Wasserreinigungsanstalt von Paris Hunderte von Leichen mit zusammengebundenen Händen und Füßen aus der Seine.

Was in jener Nacht des 17. Oktober 1961 genau passierte, ist nie bekannt geworden. Es hat weder eine offizielle Untersuchung noch ein Gerichtsverfahren gegeben.

Am Jahrestag, an dem seit einigen Jahren kleine Erinnerungsdemonstrationen in Paris stattfinden, schien gestern erstmals ein wenig Licht in das finstere Kapitel zu kommen. Den ersten Schritt dazu tat Frankreichs Innenminister Jean-Pierre Chevènement, der durchblicken ließ, daß es bei der Polizeipräfektur zahlreiches erhellendes Material über den 17. Oktober gäbe. Ihm folgte Catherine Trautmann, Kulturministerin und oberste Aufsichtsperson der nationalen Archive. Sie erklärte, sie werde die Archive öffnen, wisse allerdings nicht, welche Informationen sie enthalten.

Die gesetzliche Schonzeit von 60 Jahren für Dokumente, die die Staatssicherheit und andere nationale Interessen berühren, ist damit um fast die Hälfte verkürzt worden. Einen vergleichbaren Schritt hatte Premierminister Lionel Jospin schon vor wenigen Wochen angekündigt. Er will den Zugang zu Archiven über die Periode von Vichy, die Jahre 1940 bis 1944, öffnen, in denen bislang nur ein kleiner Kreis von Historikern mit Ausnahmegenehmigungen forschen durfte. Der Auslöser für diesen Aufklärungsschub ist der Prozeß gegen Maurice Papon in Bordeaux. Denn der pensionierte Staatsdiener, der wegen seiner Rolle bei der Judendeportation wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angeklagt ist, war 1961 Polizeipräfekt von Paris. Vor Gericht kam jetzt auch seine Rolle beim 17. Oktober 1961 zur Sprache.

Papon selbst hat die Zahl der Opfer stets drastisch reduziert. In den 60er Jahren wollte er den Intellektuellen, die gegen das Polizeimassaker protestierten, darunter der Schriftsteller Jean-Paul Sartre, weismachen, die Toten seien Opfer interner algerischer Auseinandersetzungen geworden. In seiner 1988 erschienenen Autobiographie schrieb Papon, am 17. Oktober 1961 habe „das Gesetz um den Preis von drei unnötigen Toten gesiegt“. Vor Gericht sprach Papon in dieser Woche von „15 bis 20“ Toten und servierte die – völlig neue – Version, der FLN habe sich damit seiner Gegner entledigt.

Auch einer der ersten Zeugen, der Ex-Resistant und ehemalige Premierminister Pierre Messmer, sprach am Donnerstag Ex-Polizeipräfekt Papon von der Verantwortung für die toten Algerier frei. Staatspräsident Charles de Gaulle und die Regierung hätten die polizeiliche Repression wenige Monate vor dem Ende des Algerienkrieges angeordnet.

Dieser Einschätzung widerspricht der Historiker Jean-Luc Einaudi, der 1991 ein Buch über die Mordnacht veröffentlicht hat („La Bataille de Paris“) und der deswegen ebenfalls geladen war. Einaudi hat Hunderte von Augenzeugenberichten und die Archive des FLN ausgewertet, um die Nacht des 17. Oktober 1961 zu rekonstruieren, und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß Papon eine „direkte und erdrückende Verantwortung“ für die von Einaudi auf 300 geschätzten Toten hat.

Erstmals haben sich jetzt auch Polizisten, die in jener Nacht im Dienst waren, zu Wort gemeldet. Einer von ihnen beschreibt, wie festgenommene Algerier durch ein Spalier von Polizeibeamten gelenkt wurden, die mit Knüppeln auf sie einschlugen. Ein anderer schildert, daß die Polizei die Demonstranten bis in die Hinterhöfe „gejagt“ und auf „alles, was sich bewegte“ geschossen habe.