Kindheit eines Chefs

■ Das Wünschen hat geholfen. Roberto Ciulli verknüpft am Mülheimer Theater an der Ruhr "Pinocchio" und "Faust". Ein praller Theaterabend

Womit anfangen, wenn es weitergehen soll? Von vorne am besten. Mit der Geschichte einer Kindheit beginnt Roberto Ciulli, der Chef des Mülheimer Theaters an der Ruhr, eine neue Epoche seiner Institution. Ein neues Haus, eine neue Reise. Das Wünschen hat geholfen. Das Theater an der Ruhr konnte, dank der Finanzierung durch das Land Nordrhein- Westfalen und die Stadt Mülheim, sein großzügig umgebautes altes Domizil im ehemaligen Solbad Raffelberg am Rande der Stadt wieder beziehen. Und das Projekt „Seidenstraße“, seit Jahren schon in Planung, nimmt nun konkrete Formen an. Die neue Inszenierung wird mit auf die Reise gehen: über Istanbul, Kairo, Damaskus, Buchara, Samarkand, Alma Ata, Xian nach Peking. Verwandlung, nicht Zerstreuung soll das Prinzip der Reise sein. Ein Thema wird den Einflüssen des Weges ausgesetzt werden: Faust, der Deutsche als multikultureller Weltbürger. Die Idee eines Italieners.

Wie das gehen soll, demonstriert Ciulli zunächst mal hier vor Ort. Faust trifft Pinocchio. Zwei Mythen, zwei Kulturen. Am Kachelofen schnitzt der alte Geppetto eine krumme Wurzel zum Holzbengel. Er brummt dabei was vor sich hin: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten ...“ – Goethes „Zueignung“, das Proömium zu seinem „Faust“. Aus dem Rückgriff des deutschen Dichterfürsten auf die eigene Werkbiografie wird eine italienische Kindheitserinnerung. Pinocchio, putzmunter und naseweis gespielt von Maria Neumann, springt herein, schon läuft er seinem „Vater“ wieder weg und die Priester hinterdrein. Es folgt ein bunter Bilderbogen von Kinderlust und -leid, der nur zum Teil mit Collodis Kinderbuch „Die Abenteuer des Pinocchio“ von 1882 zu tun hat. Die sprechende Grille wird zu Pater Anton, dem Klavierlehrer. Aber Pinocchio erschlägt ihn genauso wie die Grille mit dem Hammer. Aus den Tieren des Originals macht Ciulli auf der Bühne Priester. Die Abenteuer des frechen Holzkerls werden immer wieder mit Assoziationen aus einer Kindheit im Italien der 40er und 50er Jahre vermischt, fast wie in Fellinis „Achteinhalb“, nur weniger sinnlich-opulent als geistesscharf und ironiegesättigt. Alle Bilderfindungen haben neben unmittelbarem Reiz und Witz zugleich mehrfache Bezüge.

Pinocchio verkauft seine Fibel für eine Eintrittskarte zum Puppentheater. Das archetypische Kindheitsmuster jedes Theaterkünstlers wird hier noch zusätzlich mit Bedeutung aufgeladen. Denn was Pinocchio da sieht, ist: Faust, Prolog im Himmel. Der Marionetten-Faust („Habe nun, ach ...“) befreit sich von den Fäden und kommt herunter zu seinem kleinen Zuschauer. Und der erzählt ihm von der Wette zwischen Gott und Teufel. Das Reich der Kindheit und das Reich der Bühne verschmelzen im Gelächter. Dann spielen Pinocchio und die schöne Fee mit den blauen Haaren (Simone Thoma) Heiraten, ein toter Vogel in der Plastiktüte ist ihr Kind. Todtraurig und lebenslustig ist das. Hoffnung und Enttäuschung, Kinderzukunft und Erwachsenenvergangenheit in einem. Schule, Schokoladenpudding, Beichte, Tanzstunde, Kino, Liebe – das ganze erste Lebensbuch wird aufgeblättert, der ganze Gedächtnisfilm läuft, scharf und schnell zusammengeschnitten, an uns vorüber. Und zwei Vorbildgeschichten grundieren die Projektionsfläche: die vom Wahrheitssucher Faust und die vom ungehorsamen Bengel Pinocchio. Die mythschen Modelle, die großen und die kleinen, werden überprüft, nachgespielt, variiert, verschränkt. Individuation und Tradition im schönsten Gegensatz und in wunderbarer Einheit.

Nach der Pause kommt dann der allzu deutsche Teil: Faust pur. Es beginnt öd' und leer. Hinten auf der leeren Bühne ein Computer, davor ein Rollstuhl, darin ein verkrümmter Mensch. Dazu Musik, schwer, melancholisch, in motivischer Arbeit versteckte Sentimentalität. Steve Hawkins hört Brahms oder: Faust im Studierzimmer. Ciulli verläßt sich hier auf die allzu platte Analogie zwischen Goethes frustriertem Forscher und dem dank seiner Behinderung zum Bestsellerautor abgestiegenen Physiker. So ist die Figur zu schnell und zu eindeutig festgelegt. Das Niveau des ersten Teils wird erst dann wieder erreicht, wenn beim Osterspaziergang die Spaziergänger auftauchen. Hier schiebt Ciulli eine frei aus Improvisationen entwickelte Szene von exquisit bösartiger Gegenwartsbeobachtung ein. Eine perfide, fiese Glückwunschgesellschaft findet sich da ein, um Faust zu gratulieren.

Mephisto ist bei Ciulli wie bei Heine natürlich eine Frau. Aber zuerst erscheint er ganz einfach als Geppetto, Pinocchios Holzschnitzervater, doch dann zeigt sie sich in voller (übervoller) Schönheit, die Verführerin im knallroten Glitzerkleid, ein teuflischer Vamp, der Faust beim Kuß noch in die Zunge beißt. Danach schlüpft sie erleichtert wieder in die alten Männerkleider. Karin Neuhäuser kann sich mühelos verwandeln und ironisiert noch souverän ihre Verwandlungskunst. Zum Schluß kommt dann der Schüler, der nun wünscht, „gelehrt zu werden“. Wir kennen ihn. Es ist Pinocchio, ein Musterknabe nun. Doch Faust und Mephisto gehen davon in die große und die kleine Welt. Ein Knall, ein Blitz, Pinocchio stirbt im zurückgelassenen Rollstuhl Fausts. Ein großer, praller Abend. Ein Anfang zum Weitermachen: Ein zweiter und ein dritter Faust sollen folgen. Dann geht die Reise los. Gerhard Preußer

„Pinocchio Faust“. Theater an der Ruhr. Inszenierung: Roberto Ciulli. Weitere Vorstellungen: 25., 31. 10. und 29., 30. 11. Theater im Raffelbergpark Mülheim/Ruhr