Wenn der Kreisverkehr gewinnt

Bayerische Gemeinderäte versuchen zusehends, durch die Schaffung vollendeter Tatsachen die Bürgermitbestimmung auszuhebeln. Gerichte für Bürgerentscheide  ■ Von Bernd Siegler

Nürnberg (taz) – Nicht mehr die Bürger bestimmen in Bayern im sogenannten Bürgerentscheid, sondern zunehmend die Gerichte. Das Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes (VGH), der Ende August zentrale Bestimmungen des Gesetzes über das kommunale Mitspracherecht für verfassungswidrig erklärt hatte, zeigt unübersehbare Wirkung. „Der Richterspruch war geradezu eine Ermunterung für Kommunalpolitiker, Bürgerentscheide durch die Shaffung vollendeter Tatsachen auszuhebeln“, bilanziert Tim Weber, Vorstandssprecher des Vereins „Mehr Demokratie“. Ein Lichtblick für ihn: Viele Verwaltungsgerichte weisen die Kommunen wieder in ihre Schranken.

Seit dem 1. November 1995 können in Bayern bereits zehn Prozent der Wahlberechtigten einen Bürgerentscheid über kommunale Themen beantragen. Dazu gehören der Bau von Straßen ebenso wie die Ansiedlung von Industrien. Beim Entscheid zählt die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Inzwischen sind in Bayern mehr als 230 Bürgerentscheide über die Bühne gegangen, ohne daß dadurch im Freistaat das Chaos ausgebrochen wäre oder verunsicherte Firmenchefs das Weite gesucht hätten. Die CSU hatte genau dies prophezeit.

Ende August entschied dann aber der bayerische Verfassungsgerichtshof sehr zur Freude der CSU, daß die aufschiebende Wirkung von Bürgerbegehren und das Prinzip der einfachen Mehrheit nicht verfassungskonform wären. Während man dem Landtag bis zum 1. Januar 2000 Zeit gab, eine Mindesthöhe der erforderlichen Mehrheit festzulegen, wurde die aufschiebende Wirkung sofort aus der Gemeindeordnung gestrichen. Bislang mußte ein umstrittenes Vorhaben schon ab dem Zeitpunkt ruhen, an dem ein Drittel der für ein Bürgerbegehren erforderlichen Unterschriften beisammen sind. Nun aber kann die Gemeinderatsmehrheit vollendete Tatsachen schaffen. Der Appell von „Mehr Demokratie“-Geschäftsführer Thomas Mayer an den „demokratischen Anstand“ verpuffte wirkungslos. Immer mehr Kommunen versuchen nun, den Bürgerentscheid zu unterlaufen. Sie beißen aber bei den Gerichten auf Granit.

So wollte im oberfränkischen Coburg der Kreistag drei Tage vor einem Bürgerentscheid, mit dem ein Brückenbau verhindert werden sollte, entsprechende Verträge mit Baufirmen abschließen. Die Verwaltungsgerichte in Bayreuth und München hielten dieses Vorgehen jedoch für unzulässig. Der Bürgerentscheid konnte stattfinden. Nicht die Brücke, sondern ein Kreisverkehr erhielt den Zuschlag.

In Freilassing ereignete sich ein ähnlicher Fall. Mit dem VGH-Urteil im Rücken wollte der Stadtrat mit dem Kauf eines Teilgrundstücks schon vor dem beantragten Bürgerentscheid unwiderruflich den Weg für ein umstrittenes Industriegebiet ebnen. Nachdem das Verwaltungsgericht eine entsprechende einstweilige Anordnung gegen diesen Schritt erlassen hatte, wies auch der bayerische Verwaltungsgerichtshof eine Beschwerde des Stadtrates zurück. Nun will Freilassings Bürgermeister Verfassungsbeschwerde gegen den gerichtlich durchgesetzten Bürgerentscheid einlegen. Ende Oktober soll darüber der Finanzausschuß des Stadtrates entscheiden.

Letzte Woche schließlich gelang es Kommunalpolitikern erstmals, die Bürger auszubooten. Die Allgäuer Gemeinde Görisfeld hatte einen Bebauungsplan für eine Recycling-Anlage einfach in Kraft gesetzt – obwohl ordnungsgemäß ein Bürgerentscheid beantragt worden war.

Zur gleichen Zeit wies das Verwaltungsgericht München wiederum den Stadtrat von Garching in die Schranken, der zwei Bürgerbegehren gegen den umstrittenen Forschungsreaktor FRM-II für unzulässig erklärt hatte. Der Stadtrat habe bei seiner Entscheidung nicht die Inhalte des Bürgervotums, sondern nur die Einhaltung der Formalien zu überprüfen, beschied das Gericht.