Preis für unangenehme Wahrheiten

■ Yașar Kemal, der neue Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, und sein Laudator Günter Grass nutzen den Festakt in der Frankfurter Paulskirche zur Abrechung mit den Herrschenden in Bonn und Ankara

Frankfurt/Berlin (taz/rtr/AFP) – Wahrheit ist für manchen schwer erträglich. Nachdem Günter Grass (70) gestern bei der Verleihung des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Yașar Kemal (74) aufs trefflichste die deutsche Türkei-Politik charakterisiert hatte, rastete CDU-Generalsekretär Peter Hintze aus. Der Schriftsteller habe einen „intellektuellen Tiefstand“ erreicht und sich „endgültig aus dem Kreis ernstzunehmender Literaten verabschiedet“, giftete Hintze gestern. Dabei hatte Grass in der Frankfurter Paulskirche nur resümmiert, was seit Jahren dokumentiert ist: Im Südosten der Türkei findet ein Vernichtungskrieg statt – mit massiver deutscher Hilfe.

Er schäme sich seines „zum bloßen Wirtschaftsstandort verkommenen Landes“, dessen Regierung todbringenden Handel zulasse und verfolgten Kurden das Recht auf Asyl verweigere, sagte Grass gestern unter Applaus in seiner Laudatio auf den kurdischstämmigen Kollegen. „Wir wurden und sind Mittäter. Wir duldeten ein so schnelles wie schmutziges Geschäft.“

Die Fakten sprechen für Grass' These. Im kurdischen Teil der Türkei ist Deutschland bestens vertreten. Türkische Soldaten schießen mit Gewehren von Heckler & Koch, fallen mit von der Bundeswehr kostenlos überlassenen Panzern aus Beständen der ehemaligen NVA im benachbarten Nordirak ein und transportieren ihren Nachschub mit Militärlastwagen von Mercedes-Benz. Und sie machen mit den Waffen made in Germany längst nicht nur Jagd auf Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), sondern führen Krieg gegen weite Teile der kurdischen Bevölkerung der Türkischen Republik.

Yașar Kemal hat das am eigenen Leib erfahren. Wegen seines politischen Engagements in der marxistischen Türkischen Arbeiterpartei saß er mehrfach im Gefängnis und lebte zeitweise im Exil. So verstand auch er die Verleihung des Friedenspreises nicht als Aufforderung zum Schweigen. Als „Anwalt der Menschenrechte“ geißelte er gestern den „unglaublich schmutzigen, grausamen und sinnlosen Krieg“ zwischen Türken und Kurden in seiner Heimat. „Die Demokratie ist ein Ganzes. Sie muß für die ganze Menschheit gelten“, sagte er, während Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Arbeitsminister Norbert Blüm im Publikum zuhörten. Heute herrsche in der Türkei ein völliges Durcheinander. „Den Durchblick haben nicht einmal die Regierenden selbst.“ Dabei sei die Regierungsform der Türkei zwischen Demokratie und Diktatur „nicht erkennbar“.

An die demokratische Staatengemeinschaft appelliert Kemal, sich für ein Ende des Kurdenkrieges in seiner Heimat zu engagieren. „Wer meine Romane und Erzählungen liest, darf niemals Kriege wollen, soll vor Kriegen Abscheu haben und sich stets für Frieden und Brüderlichkeit einsetzen.“

Kemal erhielt den mit 25.000 Mark dotierten Friedenspreis für seine Romane und Erzählungen, die er nach Bewertung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels mit „unbestechlichem Blick für die Realität seines Landes geschrieben“ habe. Der Autor sei mit seinem Einsatz für Arme, Ausgebeutete und Verfolgte für viele Menschen ein Vorbild, die sich um das friedliche Zusammenleben von Völkern mühten. Der Vorsitzende des Börsenvereins, Gerhard Kurtze, betonte gestern, Kemal werde geehrt als „Dichter, der nie Rücksicht auf die Mächtigen und die Regierenden genommen hat, sondern seine Kritik immer offen und deutlich ausgesprochen hat“.

Bereits am Samstag hatte Kemal in Interviews die deutschen Waffenlieferungen an die Türkei und die Behandlung türkischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik als „Menschen dritter Klasse“ kritisiert. Kommentar Hintze: Kemals „Einlassungen im Vorfeld der Ehrung“ würden „manche Fragen aufwerfen“. taud

Tagesthema Seite 3