Analyse: Stauort Deutschland
■ Verkehrsleitsysteme werden als Zukunftstechnik angepriesen
Intelligenz ist die Fähigkeit, Lösungen für komplexe Probleme zu finden. Auf dem Welt-Telematikkongreß in Berlin ist zur Zeit viel von Intelligenz die Rede. Auch Verkehrsminister Matthias Wissmann will dem Dauerstau auf Deutschlands Straßen nicht mehr nur dumpf mit immer neuen Asphaltpisten begegnen, sondern proklamiert „intelligente Straßen“. Autofahrer sollen per Satellit am Stau vorbeigeführt, Laster mit einem Container just im richtigen Moment am Hafenkai vorfahren. Auch Schiffe, Flugzeuge und die Bahn erhalten elektronische Unterstützung und können ihre Fahrten aufeinander abstimmen. 150 bis 200 Milliarden Mark wollen europäische Auto- und Telekommunikationsunternehmen in den nächsten zehn Jahren mit Verkehrsleitsystemen verdienen.
Das Anschmeißen dieses „Innovationsmotors“ (Wissmann) ist allerdings nur bedingt intelligent. Denn die Befürworter gehen von der Voraussetzung aus, daß immer mehr immer schneller befördert werden muß. Zwar hilft die Telematik, die vorhandenen Transportkapazitäten von Gütern und Menschen besser zu nutzen. Doch in ein paar Jahren wird die Grenze erneut erreicht sein. Und auch ökonomisch sind die Hoffnungen eher zweifelhaft.
Zum Beispiel beim individuellen Autoverkehr: Volkswagen hat den neuen Golf mit einem Navigationscomputer ausgestattet. Er gibt dem Menschen hinter dem Steuer seine genaue Position an, die über Sensoren an den Rädern und einer Verbindung zu einem Satelliten erfaßt wird. Ein Farbmonitor zeigt, wie der Fahrer am schnellsten zum Zielpunkt kommt. Theoretisch. Denn Staus und Baustellen sind noch nicht erkennbar. Diesen Vorteil will Mercedes den KäuferInnen seiner nobelsten Karossen ab nächsten Sommer bescheren – für einige tausend Mark. Die Tergaron, ein Enkelunternehmen von Daimler-Benz und der Telekom, soll den FahrerInnen per D1-Netz eine „dynamische Route“ vorschlagen.
Ein Massengeschäft wird das noch nicht. Das aber ist die Grundvoraussetzung dafür, daß sich die Entwicklungen für die Industrie rechnen, glaubt die Unternehmensberatung Roland Berger. Sie fordert deshalb sinkende Preise, so daß bald jedes zweite bis vierte Auto auf deutschen Straßen einen Bordcomputer hat. Dann wäre der Vorteil für die NutzerInnen jedoch schnell dahin: Wenn jeder vom Stau weiß und ihn umfahren will, entstehen neue Engpässe.
Auf einer Autobahn nördlich von San Diego in Kalifornien wird derzeit ein anderes Modell erprobt, um den Stau zu vermeiden: die automatische Straße. Mit Hilfe von Magneten in der Fahrbahn und Computern im Auto werden Laster und Pkw auf einer Spur geführt – mit minimalem Abstand und bei gleicher Geschwindigkeit. So etwas aber ist hierzulande undenkbar. Denn zum Autofahren gehört in Deutschland nun einmal das Gefühl, individuell zu lenken und das Tempo selbst zu bestimmen. Ein Bordcomputer, der die Strecke vorschlägt, tut diesem Eindruck offenbar keinen Abbruch. Und der Stau bisher auch nicht. Annette Jensen
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