Talfahrt als Mutprobe

■ Gilla Cremer beeindruckt mit ihrem Solo „Morrison Hotel*“

Mut kann weh tun. Vor allem, wenn man sich traut, die eigene Lebensgeschichte zum Gegenstand eines Theaterstückes zu machen.

Mit ihrem Solo „Morrison Hotel*“erzählte die Hamburgerin Gilla Cremer im Jungen Theater nicht nur die Geschichte ihres Bruders Tom, dessen Leben sich eng mit dem von Doors-Sänger Jim Morrison verwoben weiß. „Morrison Hotel“handelt vor allem über Gilla.

Ihr älterer Bruder Tom war einer jener Jugendlichen, die im Zuge der Studentenbewegung in die Opposition gegangen sind. Zeitgleich zu Toms Leben wird Morrison als Sänger der Doors zum Rock- und Sexidol. Später kommen Drogen in Toms Leben, irgendwann endet er in der Psychiatrie. Morisson stirbt erbärmlich in einer Pariser Badewanne. Gilla beobachtet hilflos, wie auch ihr Bruder wenig später zerbricht. Für sich genommen, könnte der Inhalt also einem reaktionären Lehrstück über die Gefahren von Drogen, freier Liebe und politischem Engagement entstammen. Doch Cremer ging es um ganz andere Dinge. Mit einem virtuosen Szenen-Mix, rasanten Perspektiv-wechseln, Zitatattacken von Nietzsche bis Kerouac und Doorsmusik wirkte die Inszenierung wie ein scharf geschnittener Dokumentarfilm. Drei Sätze des Bruders, Rockakkorde und Publikumslärm, dann wieder die kleine Schwester, die nicht weiß, wo ihr der Kopf steht angesichts dieser rasenden Talfahrt von Bruder und Rockidol.

Gilla Cremer spielte ausgezeichnet, schlüpfte in Sekunden aus einer Rolle in die nächste. Das ängstliche Schwesterlein, der aufgekratzte große Bruder Tom, das hüftschwingende Rockidol Jim oder ein frecher Reporter erschienen eindringlich vor dem Zuschauer, weil bei Cremer tatsächlich der Puls raste und die Halsschlagader schwoll, wenn eine ihrer Figuren erschüttert war. Cremer schlüpfte nicht nur in Rollen, sie verkörperte sie bis hin zu totalen gestischen und mimischen Verwandlungen, die sie virtuos vollzog.

Angesichts dieser beeindruckenden Inszenierung spielte es keine Rolle, daß die Medienwelt mit ihren Specials zur 68er-Bewegung und Deutschem Herbst einige inhaltliche Passagen aus dem Stück überholt hat. Morrisons Texte, Toms Tiraden und die Wut der Idealisten auf Kapitalistenschweine ist, weil in letzter Zeit anderswo zu oft gehört, schnell vergessen. Doch es bleibt das Bild der erwachsenen Schwester, in der noch immer das kleine Mädchen mutig und schmerzerfüllt nach dem Bruder fragt. Und solche Fragen konnte bis heute keine Illustrierten-Sondernummer zu den 68ern beantworten.

Lars Reppesgaard