Ein schwammiger, breiiger Klumpen Leben

■ Erinnerungstrunkener Bildungsepos: Andrei Makines „Das französische Testament“

Ist die Erinnerung nicht ein Elixier der Literatur, eine Schwester der Phantasie? Ähnlich bedeutungsschwangere Gedanken könnte Andrei Makine gewälzt haben, als er den Reminiszenen-Roman Das französische Testament schrieb, eine erinnerungstrunkene Bildungsgeschichte im bilingualen Spannungsfeld zwischen russischer und französischer Kultur.

Makines Erzähler erinnert sich an die Sommer, die er bei seiner Großmutter am Rande der sibirischen Steppe verbrachte und an die Erzählungen der alten Frau von ihrer Jugend im Paris der Belle Epoque. Diese verwandeln die karge Weite des russischen Ödlands in die blühenden Landschaften der Erinnerung, in denen dann ausgiebig geschweift wird. So überlagern sich die Gedächtnisse der Generationen, und die Geschichte nimmt in doppelter Rückblende ihren Lauf durch das 20. Jahrhundert.

Schade nur, daß Makine die Dauer-Gegenwart der Vergangenheit mit einer dicken Schicht Poesie-Pathos überzieht – was sich etwa so anhört: „Wie ein nebelverhangenes Atlantis stieg das Paris unserer Großmutter aus den Fluten.“

Sentimentalistisch gestimmte Gemüter können darüber selbst ins Faseln geraten. So lobte die Woche Makine – unter Vorbehalt – als „sympathisch altmodischen Erzähler im Zeitalter eines grellen Hyperrealismus“. Ja, die Welt ist kalt, und da ist es verlockend, die heimelige Wärme rühriger Beschwörungsformeln mit Hochliteratur zu identifizieren.

Bezeichnender-weise geht es aber dort, wo Makine tatsächliche Erzählkraft entfaltet, eher um Grausames als Gefühliges. Erst der Abstieg in die Niederungen der menschlichen Natur schafft auch literarische Tiefe. Vor allem Kriegsleiden werden eindringlich-direkt beobachtet: „Eine Seele, die in einem Stück Fleisch ohne Glieder steckte ..., ein kraftloser Blick aus einem schwammigen, breiigen Klumpen Leben.“Leider bleiben das die Ausnahmen der altbackenen Regel, der das Buch auch am Ende folgt, wenn Großmutters französisches Testament dem Erzähler einen letzten Identitätsbaustein beschert. Möchte man daher das Französische Testament zuweilen eher vergessen, hat der Roman durch den Prix Goncourt schon jetzt Unvergeßlichkeit erlangt. Für Erinnerung ist also gesorgt.

Christian Schuldt

Andrei Makine, „Das französische Testament“, Hoffmann und Campe, Hamburg: 1997, 317 S.