Ohne Nummer im Arm

Sind nur tote Juden gute Juden? Andreas Nachama, Chef der Berliner Jüdischen Gemeinde, will nicht mehr gelassen sein  ■ Von Anita Kugler

Berlin (taz) – Im Sommer, kurz nachdem Andreas Nachama zum neuen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Berlins gewählt wurde, gratulierte ihm ein höherer Beamter aus der Senatsverwaltung und fügte hinzu: Sie werden es schwer haben, „Ihnen fehlt die KZ-Nummer auf dem Arm“. Dem 45jährigen promovierten Judaisten und Historiker, Sohn des Auschwitz- Überlebenden und Kantors der Gemeinde, Estrongo Nachama, stockte der Atem, bevor er erwiderte: „Und Ihnen fehlen ein paar Tassen im Schrank.“

Vier Monate nach diesem Wortwechsel scheint sich herauszustellen, daß dem Beamten keine Tassen im Schrank fehlen. Noch niemals in der Nachkriegsgeschichte waren die Beziehungen zwischen dem obersten Repräsentanten der Berliner Juden und des Berliner Senats so von Mißtönen geprägt wie heute. Daran ist vor allem ein Strukturfehler schuld. Denn Nachamas direkter Kontrahent ist die Kulturverwaltung, und ausgerechnet die ist auch die oberste Aufsichtsbehörde für alle Religionsangelegenheiten. Jeder Streit über Sachfragen, wie der jüngste über den Status des zukünftigen Jüdischen Museums im Liebeskind- Bau, erhebt sich so zu einem Streit über das deutsch-jüdische Verhältnis.

Letzter Eklat in dieser unglücklichen Gemengelage war Nachamas Redebeitrag bei der Anhörung des Kulturausschusses über das Jüdische Museum. Dort sagte er vor genau einer Woche einen Satz, der in den vielen Debatten um das Holocaust-Mahnmal oder auch um das umstrittene Museumsprojekt oft zu hören war – aber nie öffentlich von einem jüdischen Repräsentanten: „Es besteht bei Gemeindemitgliedern der Eindruck, daß nur tote Juden gute Juden sind. Der Lack ist ab zwischen Berlin und den Juden.“

Diese scharfe Reaktion schreckte die Politiker auf. Und Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, riet Nachama gar zu mehr „Gelassenheit“. Aber ist Gelassenheit möglich, wenn der Dissens zwischen Senat und Jüdischer Gemeinde so groß ist wie heute? Während der Kultursenator Peter Radunski (CDU) noch meint, er möchte nicht, „daß diese Zitate als Argumentationshilfe für Ewiggestrige dienen. Das vorbildliche Klima muß erhalten bleiben“, spricht Nachama von dem traditionell dünnen Eis zwischen Juden und Nichtjuden und davon, daß „der Senat im Begriff ist einzubrechen“.

Vom umstrittenen Satz will er auch Tage danach nichts zurücknehmen. „Es besteht ein Mißverhältnis zwischen den salbungsvollen Reden bei Gedenktafelenthüllungen und dem Umgang mit lebendigen Menschen“, sagt er. „Und wie soll ich das verstehen, daß kein Bundeskanzler jemals die seit 1933 aus Deutschland vertriebenen Juden aufgefordert hat zurückzukehren, während auf der anderen Seite dauernd der Verlust der Exilanten für die deutsche Kultur beklagt wird?“ Nachama fordert von der „Mehrheitsgesellschaft“, abweichende Meinungen der Minderheiten ernst zu nehmen. „Wenn man sich nicht die Wahrheit sagen kann, dann stimmt etwas nicht.“ Er ist überzeugt, daß man seinen Vorgängern, den Holocaust-Überlebenden Jerzy Kanal und dem verstorbenen Heinz Galinski, niemals das zugemutet hätte, was man ihm, dem „Nachgeborenen“, seit dem Tage des Amtsantritts serviert: „Mißachtung, fehlenden Respekt, Gleichgültigkeit“.

Der Streit, der so grundsätzlich wurde, hat einen harten Kern. Der Senat will im Libeskind-Bau kein Jüdisches Museum mit einer kulturellen Autonomie, sondern eine stadthistorische, jüdische Abteilung innerhalb der „Stiftung Stadtmuseum“. Um dieses durchzusetzen, kündigte sie den israelischen Direktor des Museums im Aufbau, Amnon Barzel. Mehr noch: Die Kündigung wurde ausgerechnet am Tage von Nachamas Amtsantritt veröffentlicht. Nachama, von der Presse gerade als „kompetent und besonnen“ hochgelobt, reagierte überraschend unbesonnen. „Seit 1945 ist in Berlin kein Museumsdirektor entlassen worden.“ Damit dränge sich der „traurige Vergleich mit der finsteren Zeit zwischen 1933 und 1938 auf, in der jüdische Museumsdirektoren in Berlin ihres Amtes beraubt wurden“.

Auch dieser Vergleich mit der Nazi-Zeit erregte die Kulturverwaltung. Barzel sei nicht als Jude, sondern wegen unüberbrückbarer Gegensätze entlassen worden, verteidigte sich der Kultursenator, und Nachama habe von der Kündigung schon lange gewußt. „Eine Lüge“, konterte Nachama, „die wollen mit mir Schlitten fahren“. Wie auch immer diese Geschichte genau ablief – zur Unappetitlichkeit wurde sie durch das weitere Vorgehen der Kulturverwaltung. Vor drei Wochen schob sie der regulären Kündigung Barzels eine fristlose nach, obwohl die Verhandlungen über eine gütliche Trennung, einschließlich der Abfindungssumme für den 63jährigen Museumsmacher, fast unter Dach und Fach waren.

Zu dem bösen, in den Zeitungen fast täglich wiederholten Satz „Nur tote Juden sind gute Juden“ kam es, weil die Kulturverwaltung für die fristlose Kündigung Barzels eine absurde Begründung erfand. Er habe bei einem Kongreß in Derry, Nordirland, Nachamas Presseerklärung über die Austreibung der jüdischen Museumsdirektoren zitiert. Damit hätte er den Betriebsfrieden innerhalb der Stiftung Stadtmuseum gestört und obendrein die Berliner Bevölkerung beleidigt. „Wo kommen wir hin“, empört sich Nachama, „wenn die Wiedergabe einer Erklärung der Jüdischen Gemeinde reicht, um jemanden zu kündigen. Die schlagen den Sack und meinen den Esel.“ Das sei nicht hinzunehmen. „Wenn ich das durchgehen lasse, heißt das doch, daß ich in Zukunft meine politischen Erklärungen mit dem Senat abzusprechen habe.“

Dem Einwand, beleidigt zu reagieren, widerspricht Nachama nicht. „Was soll ich machen, wenn man mir dauernd ans Schienbein tritt?“ Wichtiger wiegt für ihn aber, daß solche Affronts ein Mißverständnis zwischen Juden und Nichtjuden deutlich machen. Der Senat ist der Meinung, der Aufbau jüdischer Gemeinden nach ihrem Untergang sei geglückt, und er verweist gern auf seine Subventionen und auf die Pionierarbeit von Heinz Galinski. Für Nachama jedoch ist „der Prozeß des Aufbaus“ noch längst nicht abgeschlossen. „Ob er geglückt ist, weiß man erst in 50 Jahren.“ Das Verhältnis sei sehr labil. Mit der Überheblichkeit und der Machtpolitik des Senats, „ist in der Jüdischen Gemeinde, die sich noch in die Zukunft tastet, viel kaputt zu machen“. Und dies, sagt Andreas Nachama, ist das eigentlich Traurige.