■ Nachschlag
: Buchwochen-Eröffnung mit Yașar Kemal im Haus der Kulturen

Dichterautorität Yașar Kemal Foto:AP

In Deutschland gilt die Figur des „kritischen Intellektuellen“ unter vielen als Auslaufmodell. Yașar Kemal hingegen kann sich nicht erst seit der Verleihung des Friedenspreises ungebrochener Anziehungskraft erfreuen. Davon kündeten auch die Massen, die am Sonntag ins Haus der Kulturen der Welt kamen, um dem türkischen Schriftsteller kurdischer Herkunft zu lauschen. Für die Linken des türkischsprechenden Berlins ein gesellschaftliches Ereignis.

Sehen konnten ihn freilich nur ungefähr die Hälfte. Wer zu spät kam, hatte keine Chance auf Einlaß. So geriet die Lesung aus seinem Werk für die verspätet Eingetroffenen zu einer Art moderner Märchenstunde, bei der die Zuhörer sich statt ums Lagerfeuer um die Lautsprecherboxen im Café-Foyer scharten. Geboten wurde, in deutscher Übesetzung, ein Auszug aus dem dritte Teil des Memed- Epos, und eine autobiographische Episode, nämlich Kemals Schilderung seiner Begegnung mit Nadir Nadi, dem legendären Cumhuriyet-Herausgeber, in dessen Dienst der junge Autor in den fünfziger Jahren als Reporter trat.

Kemals frommer Wunsch, in der folgenden Debatte über Literatur statt über Politik zu reden, erfüllte sich freilich nicht. Zu drängend aktuell war die politische Problematik: Yașar Kemal selbst kündigte schließlich an, seine schriftstellerische Arbeit solange ruhen zu lassen, bis die Freilassung des kürzlich verhafteten blinden Anwalts und Menschenrechtlers Esber Yagmurdereli, dem 23 Jahre Gefängnis drohen, erwirkt sei. Ausführlich legte der hühnenhafte Literat einmal mehr seine Ansichten zur Kurdenfrage, zur kulturellen Vielfalt seines Landes und zur unseligen Assimilationspolitik seit Republikgründung dar. Nur einmal, als es dabei auf die Person Atatürks kam, gab es ein wenig Unruhe im Saal, doch polternd sorgte ein unmutiger Kemal dafür, daß es augenblicklich wieder mucksmäuschenstill wurde. Was verdeutlichte, welch Respektsperson und moralische Autorität der 74jährige ist, mit einer Integrationskraft, die Kurden und Türken eint und weit über den Kreis politischer Gesinnungsgenossen hinausreicht – selbst der türkische Ministerpräsident Yilmaz zählt sich zu Kemals Freunden. Das könnte Grass, mit Blick auf Kohl, wohl kaum passieren. Daniel Bax