High-noon am Hochjoch

Shakespeare für schlichte Gemüter. Martin Kusej schickt am Staatstheater Stuttgart die legendäre „Geier-Wally“ auf Hochhausvorsprünge und gestaltet Bilder, die man gern auch ohne Text genießen würde. So bleiben Balancestücke mit der Gefahr abzustürzen  ■ Von Jürgen Berger

Da balanciert sie ziemlich in der Höh' auf einem Betonvorsprung, und irgendwo ganz oben, im Beleuchtungshimmel des Stuttgarter Schauspielhauses, muß der Geier sitzen. Den klaute sie als Junges aus dem Nest, seither weicht er nicht mehr von ihrer Seite. Unten, im Erdgeschoß des Hochhausskelettes, steht Knecht Klettenmaier und ruft ihr zu, der tyrannische Vater sei endlich gestorben und sie als Höchsthoferbin nun die reichste Frau der Gegend.

Ein satter Karrieresprung für die spinnerte Tochter im alpinen Exil, an die alle feschen Burschen im Tal ran wollen, obwohl das wilde Mädchen sie vor Angst schlottern läßt.

Wilhelmine von Hillerns „Geier-Wally“ aus dem Jahr 1873 ist die alpenländische Familiensaga schlechthin. Man könnte das Ganze allerdings auch als spannenden Western verfilmen, so pur treffen Herz, Schmerz, Landkämpfe und patriarchale Strukturen aufeinander. Wenn etwa der Vater den Willen der stolzen Wally vor aller Augen brechen will, steht plötzlich der Joseph mit der Flinte dazwischen: High-noon am Hochjoch.

Daß Martin Kusej, der Stuttgarter Bildfinder mit Hang zu extremen Stilisierungen, sich für diesen Text interessierte, ist nicht zuletzt deshalb einleuchtend, weil er selbst irgendwo aus dem Hochgebirge zwischen München und Wien kommt. Sein erster inszenatorischer Schachzug war, wie schon mehrmals, sich die Bühne von Martin Zehetgruber bauen zu lassen. Und die ist ein kleines Ereignis: Schroff und unwirklich ragt da tatsächlich das Innenskelett eines demolierten Hochhauses in die Höhe. Wenn Stuttgarts Wally, Renate Jett, auf den jähen Resten dieser Abbrucharchitekur klettert oder somnambul ohne Netz und doppelten Boden wandelt, wird Schauspielerei zum gefährlichen Balanceakt.

Und zwar in mehrfacher Hinsicht, da Hillerns Dramatisierung des eigenen Romans einer der schlechtesten Texte der Bühnentrivialliteratur ist. Ein Shakespeare für schlichte Gemüter als peinigende Coverversion der „Widerspenstigen Zähmung“. Und gegen Ende zieht sich das Ganze auch noch in Schillerscher Manier in die Länge: „Will's denn gar nit aufhörn, das derfriern und derhungern.“ Das geht hin und her, da Wally und Joseph nicht wirklich zueinander finden können.

Genau darin allerdings liegt merkwürdigerweise auch eine versteckte Qualität der Alpenstory, die fernab aller dialogischen Abstürze auf naive Art erzählt, daß es zwischen Mann und Frau immer nur um eines geht: die Machtfrage. Kusej inszeniert das an zwei Stellen exemplarisch, und zwar wenn der Vater der Wally den stolzen Kopf in seine Richtung zwingen will und Joseph etwas später dasselbe versucht.

Renate Jett wird da zu einer eisenharten Frau, die vor innerer Stärke vibriert. Sie bringt aber auch das kleine Kunststück zuwege, immer stolz auffahrend und gleichzeitig im Innersten wund zu sein. Sieht sie Joseph, könnte sie in sich zusammensinken; aber ein falsches Wort von ihm, und schon steht sie starr wie eine Alpentanne, der man ein Stahlgerüst eingezogen hat. Ihr Reich ist irgendwo da oben im Berg, wo sie im fahlen Licht auf einer Stahlbetonbruchstelle sitzt und in ihrer Phantasiewelt surft.

Das sind Bilder, die man am liebsten ohne Text hätte. Der allerdings ist nun mal da, und so bleibt Renate Jett nichts anderes, als auf ihm zu balancieren, immer in Gefahr, peinlich abzustürzen. Kusej allerdings steuerte mit einem simplen Trick gegen: Er wollte gar nicht kaschieren, sondern zeigt im Gegenteil auch noch abschüssigste Dialoge auf dem Präsentierteller. Merkwürdigerweise klappt das, hört man Frau von Hillerns sprachlichen Naivitäten irgendwo zwischen Bayerisch und Standardsprache aufgrund von Kusejs Stilisierungen irgendwann dann doch wieder genüßlich zu.

Aufschlag Wally: „Oh, so glücklich hätt i werden können – und jetzt ist alles hin – alles, alles!“ Return Joseph: „Was soll denn hin sein – wenn du und i anand gern hab'n, so ist ja alles gut!“ Break: Kusej. Spiel, Satz und Sieg: Renate Jett und August Schmölzer als Bären-Joseph, der auch gut und gerne als Old Shatterhand durchgehen würde.

Im Schlußbild dann sitzen beide verloren auf einer Betonzinne. Er hat einen Mordanschlag überlebt, sie läßt einen lächerlichen Plastikgeier ins Tal gleiten und versucht zu jodeln. Kein Schmalz mehr weit und breit, und also muß auch das Happy-End ausbleiben. Anstatt der „leidenschaftlichen Umarmung“ donnert von hinten eine Lawine auf die beiden und das erschöpfte Publikum zu.

Wilhelmine von Hillern: „Die Geier-Wally“. Regie: Martin Kusej. Bühne: Martin Zehetgruber. Mit Renate Jett, August Schmölzer, Marcus Calvin u.a. Staatstheater Stuttgart