Aufstand der Dinge

■ Nach Alan Sokals entlarvendem Wissenschaftsfake wird heftig um den Zustand der Wissenschaften gestritten. Ein Gespräch mit dem Wissenschaftssoziologen Bruno Latour

taz: In Ihrem neuen Buch „Der Berliner Schlüssel“ nennen Sie sich einen „Liebhaber der Wissenschaften“. Das überrascht etwas in einer Zeit, wo die Wissenschaften dauernd im Kreuzfeuer der Kritik stehen.

Bruno Latour: Genau deshalb habe ich diese Bezeichnung gewählt. Es sollte deutlich werden, daß es keineswegs um eine Kritik der Wissenschaft im üblichen Sinne geht, sondern um Kritik, wie man von Kunst- oder Literaturkritik spricht. Ich versuche gegenüber der Wissenschaft eine vollkommen akritische Haltung einzunehmen. Ich bin kein Bilderstürmer, sondern Bilderliebhaber – eben Amateur, neugierig, prüfend, nicht nicht entlarvend.

Ironischerweise wurden Sie kürzlich heftig von jenen Wissenschaftlern attackiert, deren Arbeit Sie durch Ihre Forschungen eigentlich verständlich machen wollen. Wie kommt das?

Eine Handvoll theoretischer Physiker, denen die riesigen Budgets des Kalten Krieges abhanden gekommen sind, suchen offenbar nach einer neuen Bedrohung, damit sie sich heroisch als Beschützer anbieten können. Da man nicht mehr zum Kalten Krieg gegen die Sowjets blasen kann, suchen sie sich einen neuen Gegner: die „postmodernen“ Intellektuellen aus dem Ausland, vor allem aus Frankreich. Irgendwie erleben wir hier das letzte Aufbäumen einer Wissenschaft, die sich noch im Kalten Krieg befindet, und wenn nicht gegen die Roten, dann gegen die Religion oder die irrationalen Massen.

Können Sie das etwas klarer machen?

Wie man an der Geschichte mit dem „Rinderwahnsinn“ sieht, erleben wir den Übergang von einer Kultur der Wissenschaft zu einer Kultur der Forschung. Wir erleben das Ende einer Wissenschaft, die autonom und losgelöst ist, die den Anspruch hatte, mit ihrem absoluten Wissen das Feuer der politischen und persönlichen Leidenschaften abzukühlen. Aber die Wissenschaft klärt nicht mehr die politischen Kontroversen, sondern zu den politischen Kontroversen treten heute noch die wissenschaftlichen Kontroversen hinzu.

Trotzdem verstehen Sie sich doch als Wissenschaftler?

Aber selbstverständlich! Allerdings muß man präzisieren, was man darunter versteht. „Wissenschaft“ hat mehrere Bedeutungen. Die erste Bedeutung zielt auf die fertige Wissenschaft ab, auf die erkaltete Wissenschaft. Sie hat keinerlei Beziehung zu den Praktiken der Forscher. Wissenschaft in diesem Sinn wird z.B. eingesetzt als Mittel, politische Auseinandersetzungen zum Schweigen zu bringen, Kontroversen zu beenden, indem man sich auf die Wissenschaft beruft, auf eine Instanz, die nicht mehr zu diskutieren ist. In diesem Sinne betreibe ich sicherlich keine Wissenschaft, bin ich sogar antiwissenschaftlich. Die Wissenschaft als Forschung ist etwas ganz anderes, es ist eine leidenschaftliche, überraschende, riskante Aktivität. In diesem Sinne bin ich selbstverständlich Wissenschaftler.

Die Funktion einer so verstandenen Wissenschaft besteht darin, die Liste der Akteure zu erweitern, die unser gesellschaftliches und natürliches Universum bilden, wie die Elektroautos, BSE-Erreger, Ozonloch. Sie hat die Aufgabe, die nichtmenschlichen Wesen zu sozialisieren, sie im Kollektiv zu sozialisieren.

Kollektiv?

Mit diesem Wort bezeichne ich die um die Dinge und die nichtmenschlichen Wesen erweiterte Gesellschaft. Normalerweise stellt man sich eine Gesellschaft nur aus Menschen bestehend vor.

Der Wissenschaftssoziologie wird oft vorgeworfen, daß sie sich über die anderen Wissenschaften erhebt, die sie erforscht, daß sie sich gewissermaßen außerhalb stellt.

Aber das ist kein Punkt außerhalb. Es ist kein Punkt der Herrschaft, kein Ideal der Beherrschung! Wenn man sich zum Beispiel daranmacht, ein Labor zu erforschen, anstatt nach den Grundlagen der Wissenschaft in der landläufigen Bedeutung zu suchen, dann sieht man, wie sich ein Wissen über Böden bildet – um das Beispiel der Bodenkunde zu nehmen –, und dieses wird daher ganz andere Eigenschaften haben als die Resultatewissenschaft. Um ein Labor zu untersuchen, begebe ich mich so nahe wie möglich an seine alltägliche Existenz – die Vorstellung, daß man weiß, wenn man außerhalb, objektiv ist, ist ein erkenntnistheoretischer Mythos, eine Voyeur-, eine Peep-Show- Philosophie. Betrachtet Pasteur sein Milchsäureferment von außen? Natürlich nicht! Man weiß inzwischen, daß die Suche nach Grundlagen nur eine völlig oberflächliche Sicht der behandelten Fragen beibringt.

Statt nach unumstößlichen Grundlagen zu suchen, interessieren Sie sich für wissenschaftliche Gegenstände wie das Milchsäureferment oder eine Bodenformation im Amazonasgebiet. In ihrem aktuellen Buch „Der Berliner Schlüssel“ beschäftigten Sie sich sogar mit alltäglichen Gegenständen wie Schlüsseln, Sicherheitsgurten etc. Was fasziniert Sie an diesen Objekten?

Unsere Moral, ein gewaltiger Teil unserer Fähigkeiten und immer mehr unsere Regelungen gehen auf Objekte über. Wenn man den Menschen verstehen will, muß man sich für riesige Mengen von Delegierten interessieren. Einfache Beispiele für diese Delegation an Dinge sind die in die Fahrbahn eingebauten Bodenschwellen, die den Autofahrer dazu bringen sollen abzubremsen, oder jene Anlassersperren in Autos, die einem nicht erlauben loszufahren, bevor man nicht den Sicherheitsgurt angelegt hat. Ich glaube, daß diese Objekte eine sehr viel größere Rolle in der feineren Sozialisation der Menschenwesen spielen, als man denkt. Wie Sie vielleicht wissen, interessiere ich mich für Affen, ich arbeite seit 20 Jahren mit Shirley Strum, einer großen Spezialistin für Paviane, zusammen, und dies hat zu einem wesentlichen Teil mein Interesse für Objekte bestimmt. Denn Affen haben ein äußerst intensives und komplexes Sozialleben, aber der Gebrauch von Techniken – außer bei Schimpansen – bleibt sehr begrenzt. Warum? Die Erforschung des Menschen bedeutet, die Techniken zu studieren. Daher mein Interesse an den Gegenständen. Ich brauche für mein Metier des Soziologen diesen Übergang zwischen den Worten und den Dingen, welcher in den Objekten liegt.

Im „Parlament der Dinge“, einer Vision, die Ihr Buch „Wir sind nie modern gewesen“, abschließt, plädieren Sie sogar dafür, den Dingen und Objekten eine politische Repräsentation zu geben. Was hat man sich darunter genauer vorzustellen?

In einem gewissen Sinne ist es eine ziemlich monströse Mischung aus Jürgen Habermas und wilder Anthropologie, ich schrieb das vor der Geschichte mit dem Rinderwahnsinn. Inzwischen versteht jeder, daß es wirklich einen noch wenig definierten, aber vorhandenen Raum gibt, in dem die dreidimensionale Form der Proteine, die Zukunft der Regierung Major, die französischen Viehzüchter, der vegetarische oder fleischfressende Charakter der Rinder und die Kochrezepte von Frau Kohl miteinander verknüpft sind, einen Raum, in dem man wirklich gleichzeitig über das spricht, was die Menschen sind und wollen und was die nichtmenschlichen Wesen sind und wollen (oder können). Entscheidend ist, daß diese Verknüpfung nicht verstanden werden kann, wenn man von der instrumentellen Vernunft auf der einen Seite ausgeht und den Werten auf der anderen. Das ist mit dem „Parlament der Dinge“ gemeint.

Wenn in diesem „Parlament der Dinge“ von einem Sprecher für das Ozonloch die Rede ist, denkt man an eine grüne Politik. Ist diese Interpretation richtig?

Die Grünen verwenden, um die Natur zu verteidigen, dieselbe Theorie der Natur wie ihre Gegner! Die Natur wird als äußerlich vorgestellt, als natürlich, nichtmenschlich und vor allem nichtfabriziert, als objektiv. Das ist der Traum des Szientismus, der Wissenschaftsgläubigkeit, bloß umgekehrt. Statt die Natur zu beherrschen, will man sie schützen.

Aber es geht Ihnen doch auch um ökologische Fragen?

Ökologie hat weniger mit der Natur zu tun, sondern mit dem Ende des Projekts der Modernisierung. Es geht nicht um die Wahl zwischen Natur und Kultur, zwischen Schutz der Natur und industrieller Entwicklung, sondern um die Wahl zwischen Ökologisierung und Modernisierung. Unter diesem Gesichtspunkt stehen die Grünen neben ihren eigenen Praktiken. Was sie tun, ist sehr viel interessanter als das neuerwachte Interesse an der Natur.

Wir müssen die Art und Weise, wie wir verändern, verändern. Wir haben nur die Modelle Revolution und Modernisierung, die beide einen radikalen Einschnitt in der Zeit voraussetzen. Ich glaube, daß man sich die Ressourcen für das politische Handeln nicht in einer anderen Welt vorstellen darf. Die Ressourcen sind da, vor unseren Füßen, vor unseren Augen und keinesfalls später, dort hinten, eines Tages, nachdem das „System umgestürzt worden ist“. Wenn es darum geht, ein System umzustürzen, tut man gar nichts, das ist ganz einfach.

Wenn es aber Inseln von Systematisierung in einem Ozean von Anthropologie gibt, der vorhanden, wenn auch nicht klar umrissen ist, dann gibt es unzählig viele Ressourcen, Reserven für die politische Aktion. Es gibt keine Front der Modernisierung mit einer verworrenen, archaischen Vergangenheit hinter und einer strahlenden Zukunft vor uns, in der endlich klar zwischen Tatsachen auf der einen und Werten auf der anderen geschieden wäre. Auch hier ist der Rinderwahnsinn eine fabelhaft wirksame Lernerfahrung. Hinter uns liegt eine verworrene Vergangenheit und vor uns eine noch verworrenere Zukunft!

Anders gesagt, wir sind wieder wie alle Welt geworden, wie die gewöhnliche Menschheit. Wir wissen, daß wir nicht mehr modernisieren werden und daß man mehr aufpassen muß... Wir werden wieder ein wenig zivilisiert. Interview: Gustav Roßler