Kapital will Einwanderer, Koalition keine Ausländer

■ Wirtschaftsspitzen fordern 400.000 Einwanderer pro Jahr, während Kohl Angst vor „sechs Millionen Türken“ schürt. Zerstrittene Regierung verschiebt das Thema

Berlin/Bonn (taz) – „Deutschland ergraut“, befürchtet der Chefökonom der Deutschen Bank, Norbert Walter, und fordert eine kontrollierte Einwanderungspolitik von der Bundesregierung. Und das Institut der Deutschen Wirtschaft hatte ausgerechnet, daß jährlich 400.000 Einwanderer nach Deutschland kommen müssen, um Produktivität und Innovationskraft zu erhalten. Die Regierung Kohl jedoch debattiert. Der Koalitionsstreit um das Staatsbürgerschaftsrecht kochte gestern wieder mal richtig hoch.

„Völlig verfehlt und irreführend“ nannte der FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle die Ablehnung einer doppelten Staatsbürgerschaft durch Kanzler Kohl („Dann hätten wir vier, fünf, sechs Millionen Türken“). Westerwelle fordert hingegen wie auch andere PolitikerInnen von FDP, CDU, SPD und Grünen dringend, in Deutschland geborenen Kindern von Ausländern die Einbürgerung zu erleichtern. „Es wird keine weiteren Gespräche in dieser Woche geben“, legte Westerwelle fest. Offen blieb, ob liberale FDPler einen parteiübergreifenden Gruppenantrag initiieren werden. Vorstellen konnte sich Westerwelle immerhin, daß „es eine Initiative aus der Mitte des Parlaments“ gibt. Mit einem Gruppenantrag könnten ParlamentarierInnen den Bundestag zwingen, sich mit der Einbürgerung und dem Staatsrecht zu beschäftigen. Ein derartiger Antrag macht aber nur Sinn, wenn die Fraktionschefs den Fraktionszwang aufheben. Das jedoch trauen sich Wolfgang Schäuble und der FDP-Vorsitzende Wolfgang Gerhardt nicht. Dann nämlich könnte sich zeigen, daß die Mehrheit der Abgeordneten gegen die Vorstellungen der Regierung ist.

„Wir brauchen eine kontrollierte Einwanderungspolitik“, sagte der promovierte Volkswirt Norbert Walter von der Deutschen Bank vergangene Woche vor der Carl-Duisberg-Gesellschaft in Berlin. Nur wenn in Zukunft ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland kommen, könnte die Wettbewerbsfähigkeit des Landes erhalten bleiben. Denn „Deutschland ergraut“. Ob aus Angst vor Arbeitslosigkeit, der unsicheren sozialen Zukunft oder einfach aus Bequemlichkeit: Die Deutschen pflanzen sich nicht mehr fort. Schon in 30 Jahren leben in Deutschland nur noch 66 Millionen Menschen, so das DIW. Und die werden kaum zur Steigerung des Bruttoinlandsprodukts beitragen, wird doch jeder dritte von ihnen in Rente sein. Zum Vergleich: Heute leben rund 80 Millionen Menschen in Deutschland, jeder fünfte ist Rentner.

„Wir haben die dramatischste Situation der Welt“, sagte Norbert Walter. Denn wer alt ist, erfindet keine neuen Produkte, ist unflexibel und kann keine schweren körperlichen Arbeiten mehr übernehmen. „Jugendlichkeit entscheidet über Innovationen“, stellte er fest. Wenn Deutschland in den nächsten Jahren eine Rolle auf den internationalen Märkten spielen wolle, müßten Menschen bewegt werden, nach Deutschland zu kommen. Langfristig hier niederlassen werden sich Ausländer aber nur, wenn sie einen gesicherten Status haben.

Bis zu 400.000 Zuwanderer braucht Deutschland jährlich, um zu überleben. Ausgerechnet hat dies das Institut der Deutschen Wirtschaft, das vom Bund der Deutschen Industrie (BDI) finanziert wird. Momentan kommen nicht einmal 300.000 Menschen an den Wirtschaftsstandort Deutschland. „Eine gezielte Einwanderungspolitik nach ökonomischen Kriterien“ forderte daher schon Hans-Peter Stihl, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages. Die Unternehmen brauchen nämlich nicht nur qualifizierte Facharbeiter, Forscher und Entwickler. Sie werden aufgrund steigender Sozialleistungen, Steuern und Abgaben in Zukunft weiter verstärkt auf Arbeiter angewiesen sein, die bereit sind, zu Billiglöhnen zu arbeiten. Ulrike Fokken

Debatte Seite 12