Zimmer mit Aussicht

Familienbande V: Während sich die sozialen Zugehörigkeiten ständig verschieben, muß die Balance im familiären Zusammenleben gehalten werden  ■ Von Mariam Lau

Filme über Familien kreisen meist um irgendeine Art von Bedrohung. Zwar kommt sie von außen. Aber wie man im dritten Teil des „Paten“ oder jüngeren Produktionen wie „Eine verhängnisvolle Affäre“ oder „Cape Fear“, und natürlich auch „Poltergeist“ und all den andern hausinternen Horrorfilmen sehen kann, verschwimmen die Grenzen zwischen Familie und Gesellschaft bis zur Unkenntlichkeit. Die Familie ist eine Black box, ein Hexenhäuschen, das keinem Beobachter, weder dem internen, noch dem externen, noch dem Beobachter des Beobachters, jemals ihr Geheimnis offenbart.

Das war früher anders. Die Zukunftsaussichten der einzelnen entschieden sich über die Zugehörigkeit zu einer Familie; je weiter oben auf dem sozialen Echelon, desto wichtiger wurde sie. Familienbildung war eine Sache des Interesses, nicht der Neigung. Ob man Geld, politische Macht und Recht auf seiner Seite hatte, entschied sich durch Geburt. Sehnsüchtige Serientitel wie „Dynasty“ kündigen noch davon, daß dies überschaubarere Zeiten waren. Sie sind vorbei: Wer du an der Börse, vor Gericht oder in deiner Partei bist, hängt nicht mehr von Familienzugehörigkeit ab.

Der soziologische Mainstream erklärt seither die Beunruhigung, die in bezug auf die Familie entstanden ist, mit ihrem Funktionsverlust: immer mehr ihrer klassischen Aufgaben – Erziehung, Bildung, Gesundheitspflege, Altersversorgung – werden von professionellen Kräften übernommen, und über das gesellschaftliche „Who is who?“ entscheidet sie auch nicht mehr. Aber jeder weiß, daß damit nur ein Teil der Lage beschrieben ist: Dem Funktionsverlust auf der einen Seite steht ein enormer Bedeutungszuwachs auf der anderen gegenüber. Nie war sie so wertvoll wie heute. Wenn ich aus Börse, Gericht oder Partei heraustrete, soll eine Nahwelt um mich sein, in der sowohl meine Erfahrung als Börsianerin als auch mein trockener Reizhusten auf Interesse stößt. Die Familie ist das einzige gesellschaftliche System, in dem die ganze Person Thema der Kommunikation ist, ohne daß dieser Kommunikation eine bestimmte Funktion zugeordnet werden könnte. „Man kann Ä in der Familie Ü eine Kommunikation über sich selber nicht ablehnen“, schreibt Niklas Luhmann, „mit der Bemerkung: das geht dich nichts an! Man hat zu antworten und man darf sich nicht einmal anmerken lassen, mit welcher Vorsicht man auswählt, was man sagt. Wer bereit ist, sich dieser Regel zu fügen, ist bereit, zu heiraten. Die dabei hilfreiche Semantik bezeichnet einen solchen Sachverhalt als Liebe.“

Viel mehr Glück, viel mehr Enttäuschung

Das klingt recht kühl, macht aber doch klar, daß man mit Begriffen wie „Individualisierung“ bei der Beschreibung der aktuellen Lage nicht weit kommt. Man hat es mit einem kniffligen Paradox zu tun: Individualisierung erhöht den Bedarf nach privatester Privatwelt, nach sozialer Spiegelung noch der komplexesten Erfahrungen und Einschätzungen – denn die eigenen Maßstäbe sind zugleich die einzigen, die man hat. Individualisierung läuft diesem Bedürfnis aber andererseits entgegen, denn von keinem anderen Ort gehen dermaßen umfassende Forderungen und Beschränkungen aus wie eben von dieser Privatwelt. Es liegt auf der Hand, daß die Kommunikation in der Familie, die alles an einer Person betrifft, viel irritierbarer ist, viel mehr Glücks-, aber eben auch Enttäuschungspotential bereithält als eine begrenztere, auf Teilaspekte der Person bezogene Kommunikation. Sehr viel mehr Verhalten als andernorts wird zu Kommunikation, ob man will oder nicht: man kann nicht über den Flur gehen, ohne dadurch die Mitteilung zu machen, daß man im Moment keinen zu sehen wünscht. „Die Familie übertreibt Gesellschaft“ (Luhmann).

Daraus kann man die verschiedensten Konsequenzen ziehen. Man kann den großen Befreiungsschlag versuchen, sich scheiden lassen, man kann verrückt werden, man kann versuchen, wie es viele in den sechziger Jahren taten, der Familie eine libertäre Semantik anzutragen, die dann etwa heißt „wir bleiben nur solange zusammen, wie wir uns lieben.“ Jedenfalls ist die moderne Familie, ob sie will oder nicht, auf Selbstorganisation angewiesen. Eine prekäre Balance ist zu halten, eine höchst dynamische Stabilität. Weil ständig Außenwelt und Innenwelt integriert werden müssen, weil ständig Rekurs genommen wird auf die gemeinsame Geschichte, weil eben alles an Personen und ihren unwägbaren Schicksalen hängt, sind auch Programme zum Scheitern verurteilt, auf die alle eingeschworen werden – ob man das „family values“, antiautoritärer Freundeskreis, Zweckgemeinschaft, Patriarchat oder sonstwie nennt. Es hat deshalb auch keinen Sinn, weniger gemütliche Effekte des Zusammenlebens dadurch zu erklären, daß aus der Groß- eine Kleinfamilie geworden ist, daß die 68er kein Verantwortungsbewußtsein hatten, daß die Nazis alles verdorben haben oder daß die Sozialarbeiter sich immer größere Terrains unseres Lebens unter den Nagel reißen.

Beim Durchstreifen einiger Kreuzberger Alternativ-Buchhandlungen fällt auf, daß als Problemzone Nummer eins in allen Familienratgebern die Kinder beschrieben werden. Der Autor Hermann Bullinger beispielsweise geht in „Wenn Paare Eltern werden“ (Rowohlt, 1997) davon aus, daß fast alle Paare nach der Geburt des ersten Kindes in eine Beziehungskrise geraten, mit der sie „in der Regel überfordert“ sind, weil die „üblichen Bewältigungsmechanismen hier versagen“. Schuld daran sei nicht zuletzt die „Schwangerschafts- und Geburtsvorbereitungsliteratur mit ihrer Euphorie“, die den werdenden Eltern den Eindruck vermittele, es handele sich „hauptsächlich um eine Bereicherung und Erweiterung der Situation zu zweit“. Glaubt man Bullinger, ist diese Hoffnung völlig grotesk. Am Sündenfall des Stillens illustriert er viel mehr, daß das Kind droht, der Beziehung der Eltern alle erotische Kraft auszusaugen und sich selbst einzuverleiben. „Stillen ist eine sexuelle Beziehung. Wie jede andere sexuelle Beziehung kann diese so ausfüllend, einnehmend und ausschließlich werden, daß die Frau in ihrem Empfinden und Erleben keinen Raum mehr für eine weitere sexuelle Beziehung hat, nämlich die zum Mann.“

Mit den Fragen wächst die Enge

Hinter dieser seltsamen Panik steckt womöglich die Ahnung, daß sich das „System Familie“ für Kinder in der Tat gänzlich anders darstellt als für die Eltern. Während das Paar für einander, wenn alles gutgeht, dauerhaft „Höchstrelevanz“ haben kann, wie Hartmann Tyrell das Ideal romantischer Liebe beschreibt, verwickeln sich Kinder mit der Zeit in immer mehr und unübersehbarere Außenbeziehungen, die dann keine „Interna“ der Familienkommunikation mehr sind. Was man zum Beispiel schon immer über Sex wissen wollte – die Kinder/ die Eltern kann man es nicht fragen. Wenn trotzdem hartnäckig auf der Liebe als dem zusammenschweißenden Moment bestanden wird, wird es eng. Dann hat man ein Problem.

In ihrem Buch „The Divorce Culture“ beschreibt Barbara Defoe Whitehead, wie das Recht auf Scheidung zunächst ein Kampfthema der amerikanischen Revolution war, denn in England stand dieses Recht nur dem Adel zu. Mit der Unabhängigkeit wurde Scheidung dann wieder diskreditiert, weil die Puritaner darin eine Korruption der privaten Beziehungen sahen. Dabei blieb es im wesentlichen bis zu den Weltkriegen, die die Scheidungsrate jedesmal in die Höhe schnellen ließen. Der Gipfelpunkt der „Scheidungskultur“ (Whitehead) kam aber dann erst mit den sechziger Jahren, als Ehe mit stickiger Konvention und Scheidung als Befreiungsschlag und Schritt in die Autonomie beschrieben wurde, speziell in der feministischen Literatur.

Die Liebessemantik ging von da ab eher auf die Single-Mutter-Familien, die Stieffamilien oder die neuen sexuellen Orientierungen der Partner über („Daddys New Boyfriend“). Mit der ständig zunehmenden Scheidungsrate steigt auch die Zahl der Kinderbücher, die diese neuen Familienkonstellationen den Kindern schmackhaft machen sollen. In vielen dieser Bücher kehrt sich das Beziehungsgefüge um: die Erwachsenen sind inkompetent und unzuverlässig, man sieht besser alleine zu, wie man klarkommt. Pippi Langstrumpf war, ohne daß Astrid Lindgren das so deutlich gesagt hätte, das erste dieser Kinder. Während sie aber immerhin noch auf ihre Kosten kam, findet Whitehead in den letzten Jahren immer mehr Bücher, in denen sich die Kinder um die außer Rand und Band geratenen Erwachsenen kümmern müssen. „Frag dich doch mal“, rät ein Comic-Autor, „wie traurig sie sein müssen. Versuch, sie ein bißchen aufzuheitern!“ Diese Kinder wachsen, so sieht es jedenfalls Whitehead, in einer seltsam erotisch aufgeladenen, hitzigen Atmosphäre auf. Sie sollen einerseits selbst um den verbliebenen Elternteil buhlen, andererseits erleben sie, mitunter wiederholt, den Beginn einer neuen Beziehung im Schlafzimmer nebenan. Wie sich aus dieser Perspektive Familie beschreiben läßt, ist noch nicht ausgemacht. Vielleicht verbirgt sich hinter einigem, was heute unter dem hilflosen Banner „sexueller Mißbrauch“ verhandelt wird, die Wut über solche Verhältnisse. Was für eine Art von Filmen sie hervorbringen werden, wird sich zeigen. David O. Russells „Flirting with Desaster“ könnte ein erster Titel in dieser Reihe gewesen sein.

Jedenfalls wird es immer schwerer zu beschreiben, was im Zusammenhang mit dem „System Familie“ Pathologie ist und was nicht. In keinem anderen Lebenszusammenhang operiert man unter derart unwahrscheinlichen Bedingungen: Weder an der Börse noch vor einem Gericht könnte man sich fragen, wie Bemerkungen gemeint sind, könnte „ein Wort das andere geben“, könnte auf Vergessen verzichtet werden; man hätte es sofort mit einem Ausnahmezustand zu tun. Pathologien des Familienzusammenhangs sind Sache von Experten, denen aber wiederum nur dann zu trauen ist, wenn sie wissen, daß es gegenüber dem System Familie keinen neutralen Beobachterstandpunkt, kein „Außerhalb“ gibt. Verändert man die Eingabe in die Black box, und das tut man schon durch Beobachten, dann kommt etwas Neues heraus. Wo die Psychoanalyse einzelne aus dem Familienzusammenhang herauseiste, arbeitet die systemische Familientherapie mit einem kalt beschriebenen „Interaktionssystem“. Märchenhaft, fast spielerisch hat die in Mailand entwickelte „paradoxe Intervention“ in dieses System oft Störungen in wenigen Sitzungen behoben, die in den klassischen Verfahren oft nach Jahren nicht verschwunden waren. Was den einen Scharlatanerie, ist den anderen Wunderheilung. Sie basiert auf dem Verzicht auf komplexe Letztbegründungen, auf „Programmen“ wie patriarchalische Struktur, Persönlichkeit, Ödipuskomplex. Eine Psychotherapie ohne Psyche. Sie sieht nur noch die Black box. Und plötzlich sieht sie nicht mehr so bedrohlich aus.