■ Die Grass-Rede hat einen falschen Frontverlauf produziert: hier die intellektuelle Moral, dort die Politik. Die Wirklichkeit ist komplexer
: Bessere Debatten braucht das Land

Die Aufregung währte nur kurz. Von Walter Jens bis Klaus Staeck, von Christoph Hein bis Christa Wolf sprangen zwar viele Günter Grass bei, nachdem dieser seinem Land in der Paulskirche die Leviten gelesen hatte. Man war sich einig, daß es der Republik an Einmischung der Intellektuellen fehlt und gab dem zürnenden Dichter recht. Doch es ist wie verhext – die Debatte blieb aus. Warum?

Schon weil es Grass gar nicht auf Diskurs angelegt hatte. Seit langem schon verzichtet Grass auf jegliche Differenzierung, haut so hart wie möglich drauf – und wird gerade deswegen gefeiert. Grass erregt Aufsehen, weil er die komplizierte Wirklichkeit eindeutig, weil er sie wiedererkennbar macht. Im Grunde huldigt er einer Theorie deutscher Wiederkehr des Immergleichen: die Bundesrepublik stehe noch immer im Schatten des Dritten Reiches. Er formulierte damit einen Generalverdacht, der wohl durch keine Wirklichkeit mehr aus der Welt geschafft werden kann. Und eine schwarze Sehnsucht: eine Sehnsucht nach der Übersichtlichkeit der fünfziger Jahre, als ein fast metaphysischer Graben Politik und Geist trennte und die Boheme sich noch traumhaft sicher sein konnte, auf der besseren Seite zu stehen. Eine Sehnsucht nach der Klarheit einer Zeit, in der ein beliebiges Celan-Gedicht mehr Wahrheit und Bedeutung auf die Waage brachte als das gesamte Institutionengefüge der frühen Republik.

Dieser Wunsch nach der Eindeutigkeit von gestern ist verständlich, aber unpolitisch. Gottlob sind die Zeiten vorbei, da einer dumpf vor sich hinwurstelnden Politik der richtungsweisende Kuß der Musen fehlte. Schon Wolfgang Koeppens Roman „Das Treibhaus“ (1953) enthielt ja nicht die ganze Wahrheit über das politische Bonn. Wohl sah der Autor den kläglichen Alltagsopportunismus, die zähe Vergangenheitsvergessenheit der frühen Republik. Nicht aber wollte er sehen, daß es eben dieses Bonn war, das in ungeahnter Nachhaltigkeit einer Republik den Weg bahnte, die politisch das beste ist, was Deutschland in den letzten zwei Jahrhunderten zustande gebracht hat. Es waren – von Adenauer bis Seebohm und gar Globke – keine edlen Menschen, die das zuwege brachten, und es gab gute Gründe, viel NS-Kontinuität und wenig Scham zu erkennen. Und doch war dies nicht alles. Mehr noch: am Ende waren es vielleicht nicht nur die intellektuellen Warner, die das Fundament der Republik festigten; sondern es waren womöglich auch jene unscheinbaren, der Rede selten mächtigen, schlecht beleumundeten Politbürokraten, die im politischen Kabarett vergangener Jahrzehnte dem Dauerhohn ausgesetzt waren und heute allesamt vergessen sind.

Günter Grass steht stellvertretend für eine Öffentlichkeit, die den zweiten Teil dieser Wahrheit hartnäckig nicht wahrhaben will. Er steht für den Dauervorbehalt gegenüber dieser Republik. So gewinnt das Leben an Eindeutigkeit. Es ist nicht mehr belastet von jenem Grau, von jenen Zwischentönen des Pragmatismus, die die Seele der Demokratie ausmachen. Mit dem generellen Vorbehalt gegenüber der deutschen Besatzer- Republik mischt man sich auch dann nicht ein, wenn man scheinbar über Politik spricht.

Das ist schade. Denn die Republik hat Besseres verdient. Sie braucht – Peter Hintze hat es ex negativo bewiesen – Intellektuelle, die sich einmischen. Die korporativistisch verklebte Demokratie ist ja vom Stillstand geprägt, neue Ideen werden vom politischen Apparat systematisch klein- und weggemahlen. Siehe Renten, siehe Ökologie, siehe Arbeitslosigkeit, siehe Sozialstaat, siehe Föderalismus, siehe Osterweiterung, siehe Europa, siehe Bürgergesellschaft. Die Themen liegen auf der Straße: Einmischung erwünscht. Nur können sie nicht mehr von einem linksintellektuellen archimedischen Punkt, nicht mehr von außen kommen. Das Spiel „Die Guten gegen die Bösen“ ist ausgespielt, es geht um Nuancen, und Grass sitzt nun mal mit Hintze, Ulrich Beck mit Biedenkopf in einem Boot.

Beispiel: Zuwanderung, Integration, Asyl. Eindeutig ist da die Wirklichkeit schon lange nicht mehr. Es gibt Ausländerfeindlichkeit, es gibt ein anachronistisches Staatsbürgerrecht – es gibt aber auch Realitäten, die nicht umstandslos ins rechte linke Weltbild passen. Deutschland hat mehr Asylbewerber aufgenommen als jedes andere westeuropäische Land, die Fremdenfeindlichkeit ist vermutlich nicht größer als anderswo, und Integration findet tagtäglich statt. Bedarf an intellektueller Intervention gibt es hier reichlich. Allerdings genügen wohlfeile Appelle für Zuwanderung und gegen Xenophobie nicht mehr. Denn wir leben schon im nächsten Kapitel, es geht ums Wie und um die Regeln.

Wie eine solche Debatte aussehen könnte, zeigen zur Zeit Frankreichs Intellektuelle. Dort tobt ein heftiger Streit, ob möglichst offene Grenzen der Republik zuträglich sind oder nicht. Und siehe da, die Front verläuft nicht mehr nur zwischen linken Öffnungsfans und rechten Isolationisten. Es gibt endlich auch Streit im liberalen Lager. Grob unterteilt: Auf der einen Seite stehen die, die dem Staat das Recht auf Abschiebung Illegaler absprechen und die offene Grenzen für ein republikanisches Muß halten (zum Beispiel: Jean-Luc Godard, Michel Piccoli, Pierre Bourdieu, Jacques Derrida). Und auf der anderen die (zum Beispiel Alain Finkielkraut, Pascal Bruckner, Marek Halter), die solchen „moralischen Maximalismus bei ungenauer Sachkenntnis“ für ein altes Übel von Intellektuellen halten und der Meinung sind, eine allzu liberale Einwanderungspolitik schade letztlich der Integration von Ausländern.

Diese Frage ist für jede zivile Gesellschaft von eminenter Bedeutung. Eine offene Gesellschaft kann sich Abschließung nicht leisten, muß der Zuwanderung gegenüber prinzipiell offen sein, auch im Namen des Universalismus. Zugleich muß sie aber darauf achten, daß die für sie gültigen Regeln eingehalten werden; sie muß zur Kenntnis nehmen, daß Zuwanderung erst einmal auch die Zahl der Bewohner erhöht, die den prekären Wertekanon der Gesellschaft nicht teilen. Mit anderen Worten: Die offene Gesellschaft braucht Zuwanderung und wird durch Zuwanderung in ihrer zivilen Verfaßtheit gefährdet.

Darüber ließe sich trefflich streiten, jede nur denkbare intellektuelle Intervention wäre willkommen. Freilich: für Ausländer oder gegen Ausländer – so archaisch geht es nicht mehr. Deutschland hat bessere Debatten verdient als die, die uns die Matadoren von einst uns noch immer andienen. Es liegt an uns, diesem Spuk ein Ende zu machen. Thomas Schmid