Noch mehr Leichen in belgischen Kellern

Die Funde im Priesterhaus bestätigen, daß die Brüsseler Regierung aus der Affäre Dutroux nicht viel gelernt hat  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Die belgische Polizei gräbt wieder nach Leichen, wieder in verschiedenen Kellern und wieder ein paar Jahre zu spät. Pastor Andras Pandy soll zwischen 1986 und 1989 nacheinander zwei Ehefrauen und vier seiner Kinder umgebracht, zerhackt und in den Kellern seiner drei Häuser in Brüssel verscharrt haben. Teile von mindestens zwei Leichen wurden bisher gefunden. Ein unappetitlicher Fall, den man RTL überlassen sollte, wäre da nicht eine Verbindung zur Dutroux-Affäre und damit auch zur Polizeireform, die Belgien derzeit beschäftigt.

Nicht daß der 71jährige Pastor, der vor 15 Jahren aus Ungarn eingewandert ist, jemals mit dem Kinderschänder Dutroux zusammengekommen wäre. Doch ohne Dutroux würde Pandy weiter in Ruhe durch Brüssel schlendern. Denn die belgische Polizei hatte die Ermittlungen bereits 1992 eingestellt. Erst nachdem bekannt wurde, mit welcher Schlampigkeit die Polizei die von Dutroux entführten Kindern gesucht hat, ließ die Justiz alle Vermißtenmeldungen der letzten Jahre neu untersuchen.

Und plötzlich zeigt sich, daß die belgische Polizei seit Jahren Hinweise auf das seltsame Treiben des Pastors hatte. Eine seiner Töchter hatte ihn wegen Inzests angezeigt und auf das spurlose Verschwinden der beiden Frauen und der Geschwister hingewiesen. Doch die Polizisten glaubten dem Pfarrer, daß seine Familienangehörigen nur nach Ungarn verzogen seien, wo er bei Budapest noch ein Haus hat. Sie wurden auch nicht hellhörig, als von dort immer wieder besorgte Anfragen von Verwandten kamen.

Erst jetzt, als der Fall neu aufgerollt wurde, ging die Polizei auch den Briefen aus der Heimat nach, mit denen Pandy sich entlastet hatte. Die Briefe, maschinengetippt, waren unterschrieben mit den Namen der Verschwundenen. Pandy selbst hat sie geschrieben. Die Schnelligkeit, mit der die belgische Polizei plötzlich die Leichen findet, wirft ein dunkles Licht auf die frühere Ermittlungsarbeit – und fügt ein weiteres Steinchen in das verheerende Bild des belgischen Polizei- und Justizapparates.

Seit fast einem Jahr fördert der Dutroux-Untersuchungsausschuß im belgischen Parlament immer neue Überraschungen zutage. Vor zwei Wochen konnten die Fernsehzuschauer live erleben, wie drei Polizeibeamte und eine Untersuchungsrichterin sich vor laufenden Kameras gegenseitig beschuldigten, entscheidende Informationen zurückgehalten zu haben. Der Ausschuß versucht derzeit die zentrale Frage zu klären, ob die Bande von Doutroux politische Freunde hatte, die ihr die Polizei vom Hals hielt.

Doch mit jeder öffentlichen Anhörung verfestigt sich der Eindruck, daß das zwar nicht ausgeschlossen werden kann, zur Erklärung der Fahndungspannen aber nicht nötig ist. Die atemberaubende Gleichgültigkeit der Ermittler reicht dafür aus. So wurde die Leiche der ermordeten Loubna Benaissa allein deshalb nicht gefunden, weil den Polizisten der Treppenabgang zu schmutzig war: „Da hätten wir Spezialkleidung gebraucht,“ rechtfertigte sich ein Beamter vor dem Ausschuß.

Gegen rund 30 Polizisten und Justizbeamte laufen mittlerweile Disziplinarverfahren, doch nur die wenigsten müssen eine Bestrafung fürchten. Denn die Ermittlungen verheddern sich regelmäßig im Gestrüpp von Corpsgeist und Intrigen, mit denen sich die konkurrierenden Behörden paralysieren. Seit Innenminister Johan Vande Lanotte eine Polizeireform angekündigt hat, um den Krieg der Polizeistellen zu beenden, hat der Konflikt an Schärfe zugenommen. Der Chef der Brüsseler Gerichtspolizei wurde sogar vorübergehend suspendiert, weil er seine Tochter mißbraucht haben soll.

Der Vorwurf, der inzwischen widerlegt ist, war von der Gendarmerie lanciert worden, offensichtlich um die Gerichtspolizei zu diskreditieren. Der Dutroux-Ausschuß hatte eine einheitliche Polizeistruktur gefordert. Doch der sozialistische Innenminister will ausgerechnet die national organisierte Gendarmerie stärken, die als besonders intrigenanfällig gilt. Sie soll die Gerichtspolizei des Justizministers schlucken. Auch die den Gemeinden unterstellten lokalen Polizeistellen würden an Bedeutung verlieren. Denn während die Justizpolizei den Liberalen nahesteht und die lokalen Polizisten häufig von christdemokratischen Bürgermeistern geführt sind, hört die Gendarmerie traditionell auf sozialistische Einflüsterungen.

Vor einigen Wochen gingen die von Machtverlust bedrohten Beamten zu Tausenden auf die Straße, Eltern der ermordeten Kinder schlossen sich dem Protest an, das belgische Parlament will sich die Sache deshalb noch einmal überlegen. Der Vorsitzende des Dutroux-Ausschusses wetterte, die ganze Arbeit sei umsonst gewesen. Solange die Verantwortlichen in Polizei und Justiz nicht zur Rechenschaft gezogen würden, werde sich an der Einstellung der Polizisten nichts ändern. Doch das ist im toleranten Belgien schwierig. Nicht nur die Regierung, auch weite Teile der Bevölkerung nehmen die Beamten in Schutz. Selbst ein Journalist der überaus kritischen Tageszeitung De Morgen gibt zu bedenken, die Polizisten hätten ihren Job vielleicht nicht besonders gut gemacht, aber sie hätten die Kinder doch nicht absichtlich Dutroux ausgeliefert: „Soll man sie dafür bestrafen?“